Alles Land - Roman
die Jacke zurechtrückte, rissen ein paar davon aus, was nicht nur schmerzhaft war, sondern zudem die Augen ohne Schutz vor den Flocken ließ. Längst hatte er aufgehört, die Schneemänner zu zählen. Zahlen hatten sich als unzuverlässig erwiesen. Woher sollte er wissen, dass er nicht eine der weißen Figuren übersah? Einen ganzen Tag lang entdeckte er keine einzige. Waren sie bereits im Schnee versunken? Verbargen sie sich vor ihm, oder hatte er sich verlaufen? Auch Rasmus war nicht zu sehen, vielleicht steckte er längst mit ihnen unter einer Decke. Solange es nur keine Schneedecke war. Manchmal glaubte Wegener neben sich einen weißen Kopf auszumachen, der aus dem Firn ragte und ihm nachsah, wenn er vorüberlief, aber es waren wohl alles nur Schatten auf dem Eis.
Überhaupt gab es jetzt vieles zu entdecken. Er gestand es sich ungern ein, aber die ganze konturlose Weite bevölkerte sich in geradezu erschreckender Weise. Schneesperlinge waren an der Tagesordnung, auch der Polarfuchs war offenbar zurück. Einmal glaubte Wegener, in der Ferne einen Schneeleoparden auszumachen, ohne es beschwören zu können. Andererseits: Wo wäre ein Schneeleopard besser
aufgehoben als hier? Wenn Wegener jemals zu einem Schneeleoparden werden sollte, könnte er sich keinen geeigneteren Ort zum Leben wünschen. Für den Moment sah das noch etwas anders aus.
Jeden Tag erwarteten ihn jetzt neue Tiere: Schneehasen, Schneebären, was auch immer. Würde er sich am Ende selbst in einen Schneemenschen verwandeln? In einen der Schneemänner am Wegesrand?
Und wenn er hier stürbe? Vor Erschöpfung, vor Müdigkeit? Auch er würde allmählich einsinken in den Firn. Seine Fingernägel würden noch einige Tage weiterwachsen, in der Geschwindigkeit, mit der Kontinente sich bewegen. Mit dem Inlandeis würde er allmählich nach Westen treiben, wie auch der grönländische Festlandsockel nach Westen trieb, im Einklang mit den Ergebnissen seiner Arbeit. Am Ende würde er in einem Eisberg hinaustauen und davontreiben, aufs Meer.
Er würde aus der Welt sein. Wie oft hatte er davon geträumt?
Sobald am Abend das Licht verschwand, stürzten die Temperaturen. Dann wartete er auf Rasmus, oder Rasmus wartete auf ihn. Früher oder später fanden sie einander auf unerklärliche Weise jedes Mal wieder.
Um die Vorräte nicht über die Maßen anzugreifen, streckten sie ihr Essen. Dem Magen kam es vornehmlich darauf an, einen vollen Litertopf zu bekommen, also füllten sie ihn vor dem Kochen mit Firn auf. Wenn sie auch dafür zu müde waren, knabberten sie so lange an den Schiffskeksen, bis ihnen ausreichend übel war, um einschlafen zu
können. Nachts verlor Wegener das Atemloch des Schlafsacks und wachte unter Albdruck auf. Dann half nichts, als den sorgsam verschnürten Zelteingang zu öffnen und so lange das Gesicht mit Schnee einzureiben, bis jede Erinnerung an die Träume halbwegs vertrieben war.
Rasmus’ Leithund wurde krank, und Wegener tötete ihn. Dazu legte er seinen Anorak aus Hundepelz ab – allerdings so nachlässig, dass das Stück von den anderen Hunden sofort angefressen wurde.
Wegeners Fingerspitzen zeigten mittlerweile tiefe Risse, die schmerzhaft waren. Außerdem blieb er überall damit hängen. Die Reifbildung am Schlitten inzwischen unerträglich stark, selbst die Zurrleinen und die Barometertasche waren davon betroffen. Das Barometer allerdings las ohnehin niemand mehr ab.
Nachts wusste er auf einmal, dass er eine Lücke im Leben hatte, wie jeder andere auch. Einen nicht genommenen Ausweg, dem er nachtrauerte. Wohin, fragte er sich selbst, träumst du dich, wenn du dich fortträumst? Die Frage blieb ohne Antwort.
Dann wieder glaubte er, der Urkontinent zu sein. Er lag einfach da und war ganz eins. Ganz allein, es war alles beisammen. Er war die ganze Welt.
Tagelang verlor er Rasmus aus den Augen, jedenfalls kam es ihm so vor, einfach weil nicht mehr zu unterscheiden war, wann ein Tag endete und wann der nächste begann.
Wegener glaubte nicht mehr an Tage.
Woran er glaubte: Äonen. Windhosen. Schnee. Er glaubte an die Unstetigkeit seiner Gedanken, an Unstetigkeit allgemein. Was sich am Ende nicht alles als unstet erwiesen hatte, der Glaube, das Wissen, das Festland. Das Unsteteste aber war der Mensch.
Und an die Endlichkeit glaubte Wegener. An die Endlichkeit des Menschen ebenso wie an die Endlichkeit des Wetters, um zwei allgemeine Beispiele zu nennen.
Allerdings glaubte er nicht mehr daran, dass
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