Alles Land - Roman
die anderen saßen um den Tisch.
Wegener fragte nach weiteren wissenschaftlichen Ergebnissen. Georgi berichtete von den Schwierigkeiten, das Karbid zum Befüllen der Pilotballons trocken zu halten.
»Und die Eisdickenmessung?«
Georgi und Sorge sahen einander an. Sie hätten die Kisten mit dem Sprengstoff vorsichtshalber abseits gelagert, vielleicht hundert Schritt von der Station. Nach einigen Schneetagen sei die Markierung fort gewesen, die Kisten selbst unauffindbar. Sie hätten bereits einige Tage damit zugebracht, die ganze Umgebung mit Stangen abzustechen. Leider ohne Erfolg. Sie seien aber guter Dinge, noch fündig zu werden.
Wegener versank in Gedanken. Wie sollte man zu einer Entscheidung finden, wenn es unmöglich war, einen Überblick zu bekommen, einen festen Punkt, von dem aus sich entscheiden ließ? Ihm schwammen die Gewissheiten davon.
Immerhin durfte man davon ausgehen, dass beides ähnlich verderblich war, die Passage zur Küste und das Überwintern im Eis. Er bekam nicht mit, wie die anderen sich aus dem Raum stahlen. Man müsste das Problem systematisieren, bis es sich besänftigen ließ. Alle Kombinationen durchspielen. Wie viele Möglichkeiten gab es, wenn man entschied, dass die Station besetzt bleiben musste? Zu diesem Zeitpunkt im Jahr konnte man niemanden allein auf den Weg zur Küste schicken. Und nach Wegeners Erfahrungen in Pustervig war es ausgeschlossen, jemanden allein hier draußen überwintern zu lassen. Nach einigem Nachdenken stellte er es sogar für sich selbst infrage. Und Loewe war unter keinen Umständen transportfähig. Sie hatten noch zwanzig Hunde.
Im Geiste ging er sämtliche Möglichkeiten durch. Rasmus war das Überwintern im Eis nicht zuzumuten, auch wenn er seine Furcht nicht zeigte. Aber nachts hatte er vor Angst gerufen. Und auch Wegener selber wurde an der Küste, wo so viele Entscheidungen auf ihn warteten, dringender gebraucht als hier.
Auf einmal räusperte sich jemand hinter ihm. Als Wegener sich umsah, standen da Georgi, Sorge und Rasmus, und jeder hielt eine Petroleumlampe in der Hand. Die kleinen Flammen flackerten wie wild. Hatte er Visionen? Erst als sie zu singen begannen, Wir kommen all und gratulieren , verstand Wegener, dass es Mitternacht geworden war.
Der 1. November, sein fünfzigster Geburtstag. Bevor er etwas sagen konnte, war Sorge bei ihm und klopfte ihm auf den Rücken. Georgi packte mit beiden Händen seine Schultern und sah ihn lange an. Loewe lächelte von seinem Lager herüber, dann kam Rasmus an die Reihe, streckte ihm seine kleine, dicke Hand entgegen, und für eine ganze Weile ließen sie einander nicht mehr los.
Zur Feier des Tages taute Sorge für jeden einen Apfel in heißem Wasser auf. Sie sangen alle Lieder, die Rasmus in der Moräne gelernt hatte, Kinderlieder, Meteorologenlieder, es wurde sehr ungezwungen. Sie erzählten von ihren Familien, sie stritten darüber, wo es gefährlicher war, hier oder im nervösen, automobilisierten Europa.
Georgi redete sich in Rage, daheim komme doch hinter jeder Häuserecke eine Elektrische hervorgeschossen. Mit all der Hast und der Mechanisierung schwebe man ja unablässig in Todesgefahr, er jedenfalls mache
sich mehr Gedanken um seine Frau und seinen Sohn als um sich selbst. Wegener war zu müde, um zu widersprechen.
Als sie Sorge fragten, ob er Kinder habe, stellte sich heraus, dass er erst unmittelbar vor der Abreise geheiratet hatte und direkt aus den Flitterwochen zur Expedition gestoßen war.
Eine Weile starrten sie in die tanzenden Flammen der Petroleumleuchten, jeder dachte an daheim. Dann wurde Loewes Stöhnen lauter, so dass sie beschlossen, die Festlichkeiten für beendet zu erklären und sich den praktischen Seiten des Lebens zu widmen.
Zum ersten Mal seit Verlassen der Westküste zog Loewe seine Socken aus. Es zeigte sich, dass der rechte Fuß erfroren war, sämtliche Zehen befanden sich bereits im Stadium der Fäulnis.
Schweigend standen sie um den Fuß herum. Obwohl die Kälte den erheblichen Vorteil mit sich brachte, Gerüche zu dämpfen, stank es zum Himmel. Georgi meinte, Anzeichen einer beginnenden Blutvergiftung auszumachen.
Es führte kein Weg an einer Operation vorbei. Wegener sollte sie ausführen. Vorher jedoch bat er sich eine halbe Stunde Nachtruhe aus, um zu Kräften zu kommen. Die anderen blieben bei Loewe sitzen, während Wegener sich auf Georgis Lager ausstreckte.
Anders als erhofft, fand er jedoch keinen Schlaf. Immer wieder befühlte er seine
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