Alles Land - Roman
die Decke.
Wegener zog sich die leidlich getrockneten Kleidungsstücke an: die Tuchhose, das gebügelte Unterhemd, die Hundefellhose, seine dicken, ausgestopften Pelzstiefel, das Skihemd, die blaue Weste.
Nach einem Frühstück aus Haifischstücken in Brotsuppe versorgte Wegener noch einmal Loewes Wunden. Über Nacht waren einige kleinere Knochenteile herausgeeitert. Da sie kein weiteres Verbandsmaterial hatten, zupfte er mit der Pinzette die Splitter aus der Gaze und verwendete den Rest erneut.
Die Wolljacke, darüber den Anorak aus Hundefell, seine wollene Windjacke, den Kopfschützer, dazu die Pulswärmer, seine Mütze, die Pelzhandschuhe.
Georgi sah ihn an. Ob er sich ausreichend erholt fühle für die lange Reise. Wegener winkte ab. Je früher sie hinauskämen, desto mehr Zeit blieb ihnen, bevor es endgültig dunkel wurde. Außerdem fühle er sich stark wie selten zuvor, er könnte Bäume ausreißen.
Georgi lächelte: »Das lässt sich hier draußen schwerlich beweisen.«
Wieder die steile Treppe. Wie der Überdruss in Wegener hochstieg, als er ins Freie trat, hinaus in Sturm, Schnee, Licht und Kälte, in Leere, Frost und Lebensfeindschaft. All das begrüßte ihn mit einer trostlosen, unveränderlichen Maßlosigkeit, der er ohnmächtig gegenüberstand.
Ein auf beiden Seiten bewegter Abschied, die Umarmungen vielleicht noch einen Moment länger als bei der Begrüßung. Georgi schien von ihrem kleinen Disput über die Ausrüstung der Station tatsächlich keinen Gram zurückbehalten zu haben. Und auch Wegeners eigener Ärger war verzogen. Worüber sollte er sich ärgern? Sosehr man daheim am Schreibtisch bei der Vorbereitung hoffte, alles im Voraus berechnen zu können – kein Reisender in diesen Gebieten hatte einen Anspruch darauf, verschont zu bleiben: von Fehlern, von Missgeschick, von der Unwägbarkeit, in der sie alle lebten.
Wegener spürte, dass ihr Abschied für Georgi und Sorge härter war als für sie selbst. Immerhin konnten sie nun etwas unternehmen, sie konnten sich retten. Georgi sah aus, als müsste er sich nach ihrem Verschwinden erst einmal auf den Abort zurückziehen, um seine Fassung wiederzufinden.
Vor dem Aufbruch schlachteten sie die drei schlechtesten Hunde. Einer wurde an die verbleibenden Tiere verfüttert, zwei blieben dort, als Fleischreserve für den Winter.
Die Skier unterbinden. Die Stöcke greifen. Hinausgehen. Die Augen zu Schlitzen schließen und einen Fuß vor den anderen setzen. Wegener lief hinter dem Hundeschlitten her, stolperte über Windfurchen. Innerhalb von Minuten hatte er Rasmus aus den Augen verloren, auch wenn er wahrscheinlich direkt neben ihm lief.
Bildete er sich nur ein, dass es der fünfzigste Geburtstag seines Vaters gewesen war, als sie diese unselige Wette geschlossen hatten? Wie war er heute Nacht nur auf den Gedanken verfallen, sich in der Mitte seines Lebens zu befinden? Was sagten die Psalmen dazu? Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre. Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Wegener ballte im Handschuh die Finger der linken Hand zur Faust. Fünf. Dann ballte er auch die Finger der rechten Hand. Zehn. War es das, dieses seltsame Dezimalsystem, weshalb er auf den Gedanken der Hälfte verfiel? Wie sollte man eine Lebensmitte bestimmen, ohne das Ende zu kennen? Er hatte schon Gleichungen mit erheblich mehr Unbekannten gelöst, nun aber kam er bereits mit der einen nicht voran.
Die Schwierigkeit hier draußen: Man rauschte mit offenen Augen in die fallenden Schneeflocken hinein, einfach weil sie sich nicht vom Hintergrund unterschieden. Hätte man ihn vor fünfundzwanzig Jahren gefragt, wo er seinen Fünfzigsten verbringen würde, er wäre niemals auf diesen weltentlegenen Ort verfallen. Andererseits: Hätte man ihn gefragt, wo er den Geburtstag am liebsten verbringen würde, wäre sein Wunschbild von diesem Ausblick nicht zu unterscheiden gewesen.
Weiterziehen, der Dämmerung entgegen, die nun überall um ihn war. Diese Gedanken verscheuchen, Gedanken an die Dunkelheit. Überhaupt Gedanken an die Zeit, die eine Krankheit war. Eine ansteckende Krankheit, früher oder später fiel jeder ihr zum Opfer.
Es machte jetzt keinen Unterschied mehr, ob er die Augen offen hielt oder schloss. Immer war da das gleiche leere, lichtlose Weiß.
Ihm froren die Wimpern am Pelz der Kapuze fest. Jedes Mal wenn er
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