Alles muss versteckt sein (German Edition)
noch einmal, direkt auf ihren Kopf, immer wieder, bis der Schädel bricht.
Denken ist nicht tun. Aber jetzt setzt es bei Marie aus. Sie denkt nicht mehr – sie tut. Keine Zwangsgedanken, keine schrecklichen Fantasien, nein, es sind echte, es sind wahrhaftige Mordgelüste! Jetzt springt sie tatsächlich zum Kamin, greift den Feuerhaken, stürzt sich schreiend auf Jan und Vera, erwischt ihn nicht am Hals, nur an der Hand, die er sich schützend vors Gesicht hält. Er brüllt vor Schmerz, die Haken steckt zwischen den Knochen seines Handrückens. Marie reißt ihn wieder raus, hebt ihren Arm in die Höhe, die Waffe in der Hand, um erneut zuzuschlagen – da wird sie plötzlich von hinten zu Boden gerissen.
»Marie«, ruft eine Stimme, die sie sofort erkennt. »Mein Gott, Marie!« Sie liegt auf dem Bauch, direkt über ihr ein Polizist, der sie niederdrückt, ihre Hände auf dem Rücken fixiert. Aus den Augenwinkeln sieht sie weitere Beamte, die sich auf Vera und Jan Falkenhagen stürzen.
Dann taucht er neben ihr auf: Christopher. »Gott sei Dank!« Er sinkt zu ihr auf die Knie, beugt sich über sie und schaut sie an: »Ich dachte schon, wir kommen zu spät!«
Es ist gut so. Gut, dass Christopher an dem Tag, an dem sie bei Vera war und die ganze Wahrheit erfahren hat, in seine Wohnung kam, Marie suchte und dann gelesen hat, was in ihrem Computer stand, alles das, was sie im Forum erfahren hatte. Gut, dass er sofort eins und eins zusammengezählt und die Polizei alarmiert hat, gut, dass sie in letzter Sekunde das Haus gestürmt und verhindert haben, dass Marie zu einer echten Täterin wird.
Vera und Jan. Ihnen bleibt der Maßregelvollzug erspart. Der Käfig, die Zigarettenpausen, das nummerierte Besteck und das Vandalenzimmer, das alles werden sie nicht erleben. Das Gericht hat sie als voll schuldfähig zu normalen Gefängnisstrafen verurteilt.
Marie sitzt auf dem Balkon von Christophers Wohnung, genießt die warmen Strahlen der ersten Frühlingssonne, genießt die Ruhe und die Stille, die sie umgeben. Ruhe, Stille, das hat sie mehr als nötig gehabt. Und auch wenn sie nicht mehr daran denken will, nicht mehr denken an das, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, wandern ihre Gedanken zu Patrick.
Sie hat versucht, eine Erklärung zu finden. Hat sich den Kopf zermartert über das, was er getan hat. Vielleicht hat er wirklich immer geglaubt, dass das Tagebuch seines Bruders keine Realität, sondern nur eine zusammenfantasierte Geschichte war. Und vielleicht war sie das ja auch – niemand kann das Gegenteil beweisen, egal, wie überzeugt Vera und Jan Falkenhagen davon waren. Doch selbst wenn – Patrick trägt eine Schuld. Die Schuld eines Menschen, der der Versuchung nicht hatte widerstehen können, einen Vorteil aus seiner Entdeckung zu ziehen. Felix’ Tagebuch, Patricks erster Roman. Dafür hatte er bezahlt. All seine Versuche, es wiedergutzumachen, waren zwecklos geblieben. Er hatte Felix und Vera unterstützt, wo er nur konnte; dem Bruder alles durchgehen lassen, sogar dessen selbstzerstörerische Trinkerei. Es war zu spät. Zu spät. So wie es für manche Dinge eben zu spät ist. So war auch Patrick ein Täter, ein Täter ohne Tat. Beinahe. Bis auf die eine Tat, die er eben doch begangen hatte. Und für die er nie Vergebung erhalten hatte.
»Alles gut bei dir?« Christopher kommt nach draußen, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben sie. Marie nickt.
»Ja, alles bestens.«
»Ich muss gleich los, mein Flieger geht in zwei Stunden.«
»Ich weiß.«
»Bist du sicher, dass du allein hierbleiben willst? Australien ist ein wunderschönes Land. Wenn du es dir noch überlegen möchtest – ich besorg dir ein Ticket und du kannst nachkommen. Jederzeit.«
»Nein, Christopher. Ich werde hier gebraucht.« Er seufzt.
»So eine therapeutische Ausbildung kannst du sicher auch da drüben machen. Und Zwangserkrankte, denen du helfen kannst, gibt es da sicher auch.«
»Sei nicht albern.« Sie legt eine Hand auf seine Schulter. »Du bist doch erst einmal nur ein halbes Jahr in Australien, vielleicht bist du danach schon wieder ganz hier. Außerdem ist mein Englisch viel zu schlecht.«
»Aber ich hätte dich gern bei mir.«
»Ich komm dich besuchen. Es ist ja nur das andere Ende der Welt.«
Jetzt lacht er. »Stimmt. Nur das andere Ende der Welt. Na gut«, er steht auf. »Dann rufe ich mal ein Taxi.« Marie geht mit ihm hinein, wartet mit ihm im Flur, bis der Fahrer an der Tür klingelt.
»Ich
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