Alles muss versteckt sein (German Edition)
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A m schlimmsten ist die Ungewissheit. Dass sie nicht sagen kann, ob sie es wirklich getan hat oder nicht, nicht mit vollkommener, nicht mit endgültiger Sicherheit. Denn da ist keine Erinnerung, nicht das kleinste Überbleibsel in ihrem Gedächtnis von dieser Nacht, in der es passiert ist. Nur Beweise. Erdrückende Beweise und Indizien, die allesamt dafür sprechen, dass sie es gewesen ist, dass da nicht der geringste Zweifel an ihrer Schuld besteht.
Die klebrige rote Lache, in der sie neben Patrick erwachte, das verkrustete, geronnene Blut, tiefschwarz wie Öl saß es unter ihren Nägeln, steckte in jeder Pore ihrer Haut, als hätte sie mit bloßen Händen ein Tier geschlachtet. Dann der Geruch, nein, dieser metallische Gestank , den sie regelrecht schmecken konnte und den sie nie wieder würde vergessen können. Ihre Fingerabdrücke auf dem Messer, mit dem sie Patrick erst die Kehle durchgeschnitten hat, um ihn anschließend mit weiteren siebenundzwanzig Stichen niederzumetzeln. Heimtückisch, während er ahnungslos und friedlich schlief und sich nicht wehren konnte.
Genau so hat sie es gemacht. Genau so, wie sie es schon oft in ihrer Vorstellung getan hatte, hat sie ihn abgestochen wie ein Schwein. Aber doch nur in ihrer Vorstellung, in ihren Gedanken, in ihrem Kopf; und verewigt in den Aufnahmen, die auf ihrem iPhone sind und mit deren Hilfe sie sich ihre kranken Fantasien von der Seele geredet hatte. Doch nur da, sonst nirgends. Alles sichergestellt und beschlagnahmt, ihre geheimsten Ängste und Befürchtungen, ihre Horrorfantasien. Das, was sie immer verheimlichen wollte, niemandem anvertrauen oder eingestehen, am liebsten nicht einmal sich selbst – jetzt hatte es sie letztlich verraten.
»Denken ist nicht tun!« Das hatte Elli ihr immer wieder versichert. Aber dann hatte sie es doch getan. Hatte den, den sie am meisten liebte, auf bestialische Art und Weise ermordet. Und sich selbst gleich mit. Denn in ihrem Innern ist sie jetzt auch tot. Abgestorben. Nun muss sie nur noch darauf warten, dass ihr Leben ein Ende nimmt. Sie hofft, dass es bald sein wird, dass sie nicht mehr allzu lange darauf warten muss. Aber so leicht werden sie es ihr nicht machen, so leicht nicht. Sie werden sie hier festhalten, Tag für Tag, Nacht für Nacht, für Wochen, Monate und Jahre, werden ihr nicht erlauben, dass sie vor sich selbst flieht. Vor sich selbst und vor dem, was sie nun ist.
Das Klacken. Zu Anfang fällt es noch jedes Mal auf, lässt einen hochschrecken oder zusammenzucken, wenn es alle paar Minuten zu hören ist. Doch mit der Zeit verkommt es mehr und mehr zu einem Hintergrundgeräusch, bis es schließlich fast vollständig verklingt. Macht der Gewohnheit, Adaption, der Mensch gewöhnt sich schnell an das, was ihm ständig gegenwärtig ist, und hier ist es eben das permanente Klacken – klack, klack, klack – das Geräusch drehender Schlüssel in den Türen, schnappender Schlösser. Aufschließen, Tür öffnen, durchgehen, zuziehen, abschließen. Eine wichtige, eine notwendige Sicherheitsvorkehrung im Maßregelvollzug. Hier, wo sie alle weggesperrt, wo sie alle gemaßregelt sind. Klack, klack, klack – daran sind sie zu erkennen, die Ärzte, Pfleger und Therapeuten, immer ihr Schlüsselbund in der Hand, Türen auf- und abschließend. Dazu der Pieper, angesteckt am Hosenbund, der Notfallknopf für den – ja! – Notfall, denn schließlich sind sie alle, sie alle hinter diesen geschlossenen Türen gemeingefährlich. Wegschließenswürdig. Maßregelvollzugspflichtig.
»Was hast du gemacht?« Marie sitzt beim Mittagessen an einem kleinen Vierertisch im privaten Speisesaal von Station 5 in Haus 20. Eine gemischte Abteilung, Männer und Frauen, deutschlandweit eine absolute Seltenheit, aber für den Resozialisierungsprozess angeblich ungemein förderlich. Gemischt also, gemischt gemein und gefährlich. Sie blickt auf und sieht in das Gesicht von Günther, der ihr gegenüberhockt, beide Ellbogen auf den Tisch abgestützt, mit der Gabel schaufelt er sich Pasta in den Mund und schmatzt. Günther, zweiundfünfzig, seit dreizehn Jahren hier, hat seinem Nachbarn nach einem Streit mit einer Schrotflinte den halben Kopf weggeschossen, die Leiche dann mit einer Axt zerhackt und im Garten verscharrt. Keine Chance auf Entlassung für Günther. Niemals, nie.
»Bitte?«, fragt sie.
»Du sprichst ja kaum.« Wieder Schmatzen. »Will nur wissen, warum du hier gelandet bist.« Er sollte auch nicht sprechen, denkt sie. Seine
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