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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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Bei der kleinsten Störung hätten sie jederzeit eingreifen können und für Ordnung sorgen. Die schöne Aussicht, die man von der Jugendherberge aus hatte – vom Reichsarchitekten Witterkind klug einbezogen in das Ganze –, blieb ihnen von hier aus allerdings verwehrt. Die ging nach hinten raus. In einer weiten Schleife führte hier die Straße zu Tal, der Treck wand sich dahin. Und in der Ferne ein Städtchen mit zwei Kirchen und einem Schloß.
     
    In der Jugendherberge herrschte Ordnung und Disziplin. Die Waschräume waren tipptopp, und im großen Thingsaal hatte jede Flüchtlingsgruppe eine Ecke zugewiesen bekommen. Da saßen sie dicht aneinander, die Sippen, mit Koffern und Rucksäcken, und die Pferde wurden in der Turnhalle ordnungsmäßig versorgt. Schwestern der NSV ging hin und her und gaben Verpflegungspäckchen aus. Peter mußte seinen Ausweis zeigen, Heil Hitler, und bekam auch ein Verpflegungspäckchen ausgehändigt. Um zwölf Uhr dreißig würde es sogar warme Suppe geben. Es war wohl dieses Ereignis, das die Leute hier noch hielt.
    Ein einzelner Stabsgefreiter wollte sich auch so ein Verpflegungspäckchenholen, Heil Hitler, der wurde sofort ins Büro geschickt zu den Feldjägern, der kam dann lange nicht wieder heraus.
    «Soweit kommt das noch! Die Truppe verlassen und sich dann noch Essen erschleichen?»
    Wo hatte der Mann überhaupt sein Gewehr? Der war ausgeschickt worden, Heil Hitler, um drei erschossene Russen, die er in einem Dorf entdeckt hatte, zu melden.
    Soso, das war natürlich was anderes.
     
    Wohl zweihundert Menschen, groß und klein, warteten hier unter den Wandbildern von Herders Leben und Streben auf die Suppe, und: wie’s weitergeht, wollten sie wissen. Hier wurde den neuesten Nachrichten gelauscht, aus dem Radio und von Mund zu Mund. Wie weit der Russe noch entfernt ist. Ob die Straße zum Haff hinunter frei ist, das hofften die Menschen zu erfahren, und murmelnd wurde jede Einzelheit erörtert. Kinder spielten Ball zwischen ihnen hin.
    Auf der Empore nahm einer von der Marine sein Schifferklavier zur Brust, der wollte für ein bißchen Stimmung sorgen:
     
    Heimat, deine Sterne,
    die leuchten am Firmament ...
     
    Klein und groß umstanden ihn, die Hände gefaltet, und mancher hatte Tränen in den Augen. Ein Mariner im Erdkampfeinsatz war das. Der hatte sich sein Marineleben wohl auch ganz anders vorgestellt. Für den war Heimat einer der großen Pötte, die längst auf dem Grund des Meeres lagen.
     
    Und hier in diesem Haus, das die Partei gebaut hatte, um dem Wanderdrang der deutschen Jugend Auftrieb zu geben, in einerJugendherberge des Großdeutschen Reiches, unter einem Bild von Herders Segelschiffsüberfahrt in den Westen, geschah es dann – die Welt ist ein Dorf –, daß Peter seinen Lehrer, Herrn Studienrat Dr. Wagner, wiedertraf, in Wanderhosen, Gehpelz und Wickelgamaschen.
    Wer sah wen zuerst?
    Freudig umarmte Herr Wagner den Jungen, und sofort begann ein langes Erzählen.
    «Mitkau brennt, mein lieber Junge», sagte Wagner, «und in Georgenhof sitzt wahrscheinlich schon der Russe ... »
    Und Peter erzählte vom Tantchen und von Wladimir und Vera ...
    «Sag bloß», sagte Herr Wagner, «aufgehängt? – auch die Frau? – Das haben die nun auch wieder nicht verdient.» – Zuerst hatte der Studienrat noch: Na? na? gesagt, weil er dachte, der Junge erzählt ihm hier wieder einmal Märchen. Dann aber doch: «Aufgehängt?»
     
    «Alles futsch», sagte Peter, «auch die Kutsche! Ich habe das Ding ganz allein kutschiert», sagte er, «das Tantchen saß hinten drin.» Er habe es ihr mit Stroh dort sehr gemütlich gemacht. Und genau das wär’ ihr Untergang gewesen. Pferd und Kutsche kaputt, und er, auf dem Kutschbock, mittendrin ohne eine Schramme. Zwar runtergefallen, aber ohne Schramme. Und er zeigte die Hände vor, da war kein Ritz zu sehen. Ein Wunder! «Ein Wunder», flüsterte Wagner. «Daß du das konntest, einen Wagen lenken ... », und er dachte daran, daß das Tantchen nie sehr nett zu ihm gewesen war, mokante Reden geführt, wenn er – fero, tuli, latum – bei Peter saß, um unregelmäßige Verben zu üben.
     
    «Und weißt du, wer ebenfalls hier ist?» sagte er, «komm mal mit ... » Und er ging voran in seiner altmodischen Wanderhose mit den Wickelgamaschen von 14/18 und führte Peter in einen hinteren Raum, Tür auf, Heil Hitler, aber da wurden sie sofort wieder rausgeschickt, denn hier bekam eine Frau ein Kind. Es war Felicitas, und eine halbe Stunde
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