Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
übersehen. So wurde mit dem ersten frei gewählten russischen Parlament Schluss gemacht, das im Oktober 1993 auf Befehl Jelzins beschossen wurde. So wurde der Tschetschenienkrieg begonnen, der in ein langes und äußerst blutiges Gemetzel mit schmerzlichen Folgen bis heute ausartete. So verwandelten sich die Präsidentschaftswahlen von 1996 durch den Kauf der Wähler, unrechtmäßige Ausgaben in Höhe von vielen Millionen Dollar und grobe Fälschungen in eine reine Show.
Zur Macht gekommen und sich um jeden Preis an sie klammernd, verwandelten sich die Radikaldemokraten in Radikalliberale, die Demokratie und soziale Verantwortung vergessen hatten. Als Folge davon gerieten schon allein die Begriffe »Demokratie« und »Reformen« im Volk in Misskredit. Darin sehe ich nicht so sehr die Hauptschuld der »Elite« der neunziger Jahre als vielmehr ein großes Unglück unserer Gesellschaft bis in unsere Tage.
Davon zeugen auch die hartnäckigen Modernisierungsaufrufe des ehemaligen russischen Präsidenten Medwedew. Ohne einen neuen Durchbruch der Aktivität der Bürger kann eine Modernisierung – wenn damit der Staat und die Gesellschaft und nicht einfach technische Neuerungen in einzelnen Produktionszweigen gemeint sind – nicht gelingen. Akteur einer sozialen Modernisierung kann nur der Bürger mit seinen Rechten und Pflichten sein. Die Befreiung des Menschen, seine Verwandlung aus einem »Schräubchen« in einen aktiven Teilnehmer an sozialpolitischen Prozessen, der seine eigene Wahl treffen, Einfluss auf sein persönliches und politisches Schicksal, auf den Gang der Dinge in seiner Umgebung und seinem Land nehmen kann, das war das Ziel der Perestrojka. Und in vielem ist es auch erreicht worden; jedenfalls hat sich im Lauf dieser nicht einmal sieben Jahre der Perestrojka viel bewegt. Die Hauptsache, die sie gebracht hat, ist der gewaltige Aufbruch zu aktiver gesellschaftlicher, politischer und staatsbürgerlicher Aktivität einer Masse neuer Leute aller Altersgruppen, ganzer Generationen und besonders der Jugend.
In den Perestrojka-Jahren ist die bürgerliche Gesellschaft in Russland gleichsam aufgewacht und gewachsen. Die Bürger wollten den Rückfall ihres Landes in die Vor-Perestrojka-Zeit nicht und ließen ihn nicht zu. Aber nachdem sie die Putschisten abgewehrt hatten, durchschauten die Bürger Russlands nicht rechtzeitig, in welche politische Falle sie von den feinen Demagogen und in Intrigen geschulten Führern der Nomenklatur gezogen wurden. »Ein entschiedener Führer« und Siegesgewissheit, das stellte sich als unvereinbar mit der Demokratie heraus und war ihr von Anfang an fremd.
Im Kampf für die Perestrojka haben meine Mitstreiter und ich eine Reihe von Fehlern gemacht, auf die ich schon eingegangen bin. Und obwohl viele meiner Opponenten der Meinung waren und sind, weder die KPDSU noch die UDSSR sei zu reformieren gewesen, bin ich nach wie vor anderer Meinung. Vieles hätte man früher, schneller und, wie jetzt ersichtlich, härter anpacken können und müssen. Ein strategischer Fehler der Perestrojka war die Unterschätzung der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, in die das Land rutschte. Die Wende zu einer sozialen Markwirtschaft hätte man eher und resoluter beginnen müssen. Noch in den Jahren 1990 / 91 hätte man den Zusammenbruch des Konsummarktes aufhalten und verhindern können, wenn man dafür die nötigen Mittel bereitgestellt und die militärischen Ausgaben stärker gekürzt hätte.
Es drängt sich die Frage auf: Warum haben die Anführer der Perestrojka nicht alles »früher, schneller und härter« angepackt? Wer und was hinderte sie daran?
Der von der Perestrojka eingeleitete Prozess der grundlegenden Erneuerung eines so riesigen und vielschichtigen Landes, wie es die Sowjetunion war, hätte für eine erfolgreiche Entwicklung sehr viel mehr Zeit erfordert als die knapp sieben Jahre, die der Perestrojka vergönnt waren, bevor sie auf halbem Weg abgebrochen wurde. Die Gegner der Perestrojka, obwohl gegensätzlicher sozialer Orientierung, handelten parallel und synchron. Die einen bremsten und sabotierten die Erneuerung; die anderen forderten eine Beschleunigung, hetzten und brachten die Unionsstrukturen ins Wanken. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Konservativen brachen sie dem Unionszentrum das Rückgrat und »erledigten« es. 1991 erlebte die Perestrojka und mit ihr das ganze Unionsstaatswesen zwei gewaltige Verschwörungen: den Putsch vom August und die Vereinbarung von
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