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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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die Vierteldollarmünzen, damit sich die Plastikspinne auf dem Ring in Gang setzte, genauso wie der Mann, dessen Größe sich im Wasser verzehnfachte, oder die abwaschbaren Tattoos aus Schmetterlingen, Comichelden oder Herzen in Pink und Rot. Oben neben der Kasse hingen die Rubbellose für obdachlose Männer mit Spielsucht oder hoffnungsvolle Frauen, die dem Reiz der Aussicht auf eine Glückssträhne ein paar Dollar vom Haushaltsgeld opferten. Oft bekreuzigten sich diese Damen mit theatralischem Gestus, bevor sie die Felder mit einem einzelnen Penny oder Dime abkratzten. Aber für viele in der Reihe war selbst das kleinste Los als Zeitvertreib unbezahlbar.
    Frauen bildeten diese endlose Schlange, Frauen mit Monatsrechnungen in verkrampften Händen, Frauen mit finsterem Blick, Frauen mit Kindern. Ihre Männer (wenn sie überhaupt dabei waren) hielten, lässig an Trennwände aus Metall gelehnt, sorgsam Abstand. Entweder kamen sie mit den Frauen in das Büro und traten dann zur Seite, bis der Scheck eingelöst war, oder sie waren schon vorher da, vorausschauend und gut informiert über den Ablauf des Programms – um ganz sicherzugehen, ihrer Ehefrau oder Freundin einen Teil des Geldes abzuknöpfen. Die Frauen versuchten im Rahmen ihrer Kräfte, die Kerle abzuwehren, und verzichteten auf so viel, wie sie mussten, um dann das Beste aus dem zu machen, was ihnen blieb. Lisa und ich gewöhnten uns so sehr an dieses Chaos, dass wir kaum noch aufblickten, wenn die Erwachsenen lautstark miteinander stritten.
    Lisa lungerte bei den Quarter-Automaten herum, angezogen von den glitzernden Aufklebern. Ich blieb in der Nähe unserer Eltern, die sich von den anderen Erwachsenen dahingehend unterschieden, dass sie als Team vorgingen und seit ihrer Ankunft hier ein gemeinsames Ziel verfolgten. Ich war Mitwirkende in ihrem Freudentaumel und erpicht darauf, mir ihre Begeisterung zu eigen zu machen.
    Könnte ich die Freude am Zahltag in einzelne Segmente einteilen, dann würde nichts die Phase übertreffen, in der Ma und
ich gemeinsam in der Schlange anstanden. Während sie darauf wartete, am Schalter dranzukommen, war ich wieder ihre Gehilfin. In diesen intensiven, erwartungsvollen Momenten war Ma am stärksten auf mich angewiesen. Dies war der Augenblick, in dem ich glänzen konnte, und ich zeigte mich der Situation gewachsen.
    »Noch acht vor uns, Ma. Sieben. Mach dir keine Sorgen, die Kassiererin arbeitet schnell.«
    Ihr Lächeln, als ich meinen Bericht ablieferte, gehörte nur mir. Das Maß der Aufmerksamkeit, das sie mir zukommen ließ, hing von der Nummer ab, die ich in zuversichtlichem Ton verkündete. Ich hätte den Rest des Zahltags gegen zehn mehr Menschen in der Schlange vor uns eingetauscht, weil Ma während dieser Zeitspanne garantiert nirgendwohin verschwand. Ich hätte mir keine Sorgen mehr über Mas Angewohnheit machen müssen, uns mittendrin einfach zu verlassen.
    Einmal waren wir alle vier auf dem Weg zum Loew’s Paradise Theater auf dem Grand Concourse, um uns eine ermäßigte Vorführung von Alice im Wunderland anzusehen. Auf dem Spaziergang dorthin erklärte uns Daddy, dass der Concourse mal eine luxuriöse Gegend der Bronx gewesen war, ein Boulevard mit kunstvoller Architektur, die die Reichen anzog. Aber alles, was ich auf unserem Weg sehen konnte, waren riesige, schmutzig graue Ziegelbauten mit vereinzelten verdreckten Engeln oder Wasserspeiern über den Eingängen, die zwar angeschlagen und rissig waren, aber die Stellung hielten. Wir setzten uns in ein fast leeres Kino.
    Ma blieb nicht bis zum Schluss. Es ist nicht so, dass sie es nicht versucht hätte, sie stand ein-, zwei-, dreimal auf, »um eine zu rauchen«. Dann verschwand sie endgültig und kehrte nicht mehr zurück. Als wir abends nach Hause kamen, spielte der Plattenspieler den traurigen, kehligen Gesang einer Frau ab. Ma sog an ihrer Zigarette und studierte ihren gertenschlanken nackten Körper eingehend in dem mannshohen Spiegel.

    »Wo wart ihr denn?«, fragte sie unbefangen, und ich überlegte sofort, ob ich es mir nur eingebildet hätte, dass sie überhaupt mit uns mitgekommen war.
    Aber in der Zahltagschlange rührte sie sich nicht vom Fleck. Sosehr sie auch herumzappelte, Ma würde niemals ohne das Geld weggehen. Also nutzte ich die Gelegenheit, ihre Hand zu halten und ihr Fragen darüber zu stellen, wie sie in meinem Alter so gewesen war.
    »Keine Ahnung, Lizzy. Ich war frech als Kind. Ich habe geklaut und die Schule geschwänzt. Wie viele sind

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