Nachtgeboren - Sinclair, A: Nachtgeboren
1
Balthasar
Als es an Balthasars Tür klopfte, kündigte die Glocke bereits den Sonnenaufgang an. Für Imogenes Nachtgeborene war dies die Stunde der Verbrecher und Selbstmörder, die Stunde von Gewalt oder Verzweiflung. Das altehrwürdige Gesetz der Nothilfe war in der zivilisierten Stadt Minhorne fast in Vergessenheit geraten, und selbst bei unmittelbar bevorstehendem Tagesanbruch hätten viele auf das Klopfen eines Unbekannten hin ihre Tür nicht geöffnet.
Zu ihnen gehörte Balthasar Hearne jedoch nicht; er eilte zu der schweren Tür und zog sie auf. Direkt vor ihm stand eine Frau – eingehüllt in einen dicken Reiseumhang. Hinter ihr konnte er weder eine Kutsche peilen, noch war innerhalb der Reichweite seiner Ultraschallsinne – seines angeborenen Sonars – die Regung eines anderen menschlichen Lebewesens auszumachen. Nichts außer zwei Katzen und dem schemenhaften Flattern einiger Vögel. So kurz vor Sonnenaufgang waren die Straßen für gewöhnlich wie ausgestorben. »Um der Barmherzigkeit willen«, bat die Frau atemlos, »lasst mich ein.«
Balthasar konnte bereits das Stechen des ersten Tageslichts spüren. Er trat zurück, und die Frau stolperte über die Schwelle und fing sich erst an dem kleinen Tisch im Flur. »Grundgütige Imogene!« Sie keuchte und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Ich dachte schon, ich würde nicht mehr rechtzeitig hierhergelangen. Ich war mir sicher, ich müsste verbrennen.«
Er schloss die Tür und verriegelte sie gegen das Tageslicht. Ihm blieb gar keine andere Wahl. Denn draußen würde die Frau bei Sonnenaufgang in einem einzigen Augenblick zu Asche verbrennen, genau wie er. Das war das Schicksal der Nachtgeborenen, zu dem sie durch den Fluch der Erzmagierin Imogene verdammt waren.
Ihr schwerer Umhang drohte eines der Zierstücke von dem Tischchen zu reißen. Balthasar konnte es gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen – es war eins der Lieblingsstücke seiner Frau, eine Stute mit Fohlen, das sich eng an sie drückte. Er hielt die kleine Figur vorsichtig fest, während sich die Frau mühsam aufrichtete und zu ihm umdrehte. Er spürte, wie ihr Sonar über ihn hinwegstrich und er in ihrer Wahrnehmung Gestalt annahm: ein unscheinbarer, schlanker Mann, etwas kleiner als der Durchschnitt, manierlich, aber weder modisch noch vornehm gekleidet. Und sicherlich keineswegs so, wie es dem Ehemann einer Herzogstochter angemessen gewesen wäre – falls ihr überhaupt bewusst war, wem sie gegenüberstand. Er erwiderte ihre Peilung äußerst taktvoll, ganz so wie es sich gehörte, damit der Anstand der Dame gewahrt blieb. Das schmale Gesicht über dem Pelzbesatz ihres Umhangs wirkte verquollen. Sie trug Handschuhe und hielt mit ihrer zierlichen Hand den Verschluss des Plaids fest. Noch immer ging ihr Atem schwer. Wie den meisten Frauen der Aristokratie mangelte es ihr an Kraft und Ausdauer, auch nur geringe Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Sie wirkte allerdings derart entkräftet, dass es dafür noch eine andere Ursache geben musste. Er fragte sich, was sie wohl ohne Begleitung hergeführt haben mochte. Denn das allein verhieß nichts Gutes, weder für sie noch für ihn. Falls es sich herumsprach, dass sie den Tag zusammen in seinem Haus verbracht hatten, würde es sowohl ihrem Ruf als auch seiner Ehe schaden.
Die Glocke verstummte. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen. Also saßen sie hier bis zum Einbruch der nächsten Nacht zusammen fest. Gleichwohl, er vergaß seine guten Manieren nicht. »Zum Salon geht es dort entlang.« Er wies ihr den Weg.
Sie rührte sich nicht. »Erkennst du mich denn nicht, Balthasar?«, fragte sie mit klarer, lieblicher Stimme. »Habe ich mich tatsächlich so sehr verändert?«
Er tastete sie noch einmal mit seinem Ultraschall ab, aber an ihrer Stimme hatte er sie bereits erkannt, an ihrer melodiösen Sprechweise. »Tercelle Amberley«, sagte er tonlos.
»Ja«, erwiderte sie lächelnd. »Tercelle Amberley. Es ist schon sehr lange her.«
Die Echos seines Ultraschalls verebbten, zurück blieb nur der flüchtige Nebel aus Reflexionen zufälliger kleiner Laute um sie herum. Er schämte sich seiner Gefühle. Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass er seit zehn Jahren oder länger versucht hatte, seinen Bruder und alle, die mit ihm in Verbindung standen, zu vergessen.
Ihren nächsten Ultraschallruf richtete sie auf den Korridor – eine Dame, die mit Würde über eine Peinlichkeit hinwegging. »Dein Haus hat sich
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