Als ich unsichtbar war
schützen, daher wäre ich mit dem Gesicht voran auf den Boden geknallt. Wenn ich aus eigener Kraft zu essen versuchte, schmierte ich mir mit der Hand das Essen über die Wangen. Ich konnte mich nicht selbst auf die Seite rollen, wenn ich im Bett lag, daher musste ich stundenlang in derselben Position verharren, bis jemand kam und mich umdrehte. Meine Extremitäten wollten sich nicht öffnen und beweglich werden, sie rollten sich ein wie Schnecken, die in ihrem Haus verschwinden.
Vergleichbar mit einem Fotografen, der sein Kameraobjektiv erst sorgfältig einstellen muss, bevor er ein gestochen scharfes Bild machen kann, erforderte es für meinen Geist Zeit, sich auf etwas zu konzentrieren. Doch obgleich mein Körper und ich in einen endlosen Kampf verstrickt waren, wurde mein Geist immer stärker, je mehr sich die Teile meines Bewusstseins miteinander verknüpften.
Nach und nach wurde mir jeder Tag und jede einzelne Stunde desselben bewusst. Das meiste verschwand in der Vergessenheit, aber es gab Momente, in denen ich Ereignisse von historischer Bedeutung eindeutig mitbekam. Die Vereidigung von Nelson Mandela als Präsident im Jahre 1994 ist eine schemenhafte Erinnerung, während Dianas Tod 1997 als klares Bild vor mir steht.
Ich glaube, mein Geist begann zu erwachen, als ich ungefähr sechzehn war, und mit neunzehn war er wieder in vollem Umfang funktionsfähig: Ich wusste, wer ich war, wo ich mich befand, und ich war mir darüber im Klaren, dass ich eines echten Lebens beraubt war. Wenn ich aufwachte und dachte, ich habe in einem Iglu geschlafen, erkannte ich sehr schnell, dass ich unter einem Gletscher beerdigt war. Ich war lebendig begraben, gefangen im eigenen Körper.
Das war vor sechs Jahren. Anfangs wollte ich gegen mein Schicksal ankämpfen, indem ich irgendwelche winzigen Zeichen zurückließ, um die Menschen auf meine Spur zu führen; wie die Brotkrumen, die Hänsel und Gretel fallen ließen, um den Rückweg aus dem dunklen Wald zu finden. Doch nach einiger Zeit kam ich dahinter, dass meine Anstrengungen nie zum Ziel führen würden: Selbst als ich wieder ins Leben eintrat, verstand niemand so richtig, was geschah.
Obwohl ich langsam genügend Kontrolle über Genick und Hals gewonnen hatte, um den Kopf ruckartig nach unten und rechts bewegen zu können, erkannten die Menschen um mich herum nicht, was meine neuen Bewegungen im Grunde bedeuteten. Sie glaubten nicht, dass Wunder im Doppelpack geschehen: Nachdem ich bereits die Prognose der Ärzte, schon bald sterben zu müssen, überlebt hatte, hoffte wohl keiner mehr auf ein zweites göttliches Einlenken. Als ich auf einfache Fragen mit einem Ja oder Nein zu ›antworten‹ begann, indem ich den Kopf drehte oder lächelte, gingen sie davon aus, es handle sich nur um einen minimalen Fortschritt. Keiner kam auf die Idee, meine deutlichen Reaktionen könnten ein Zeichen intakter Hirnfunktionen sein. Vor langer Zeit schon hatte man ihnen zu verstehen gegeben, ich habe einen schweren Gehirnschaden erlitten, daher sahen sie jetzt nicht mehr, als dass dieser junge Mann mit seinen Storchenbeinen, verkrüppelten Gliedmaßen, leerem Blick und aus dem Mund laufenden Speichel hin und wieder seinen Kopf hob.
Und so wurde ich denn versorgt – gefüttert und getränkt, abgerieben und geputzt –, doch Notiz nahm man von mir nicht. Ein ums andere Mal flehte ich meine widerspenstigen Gliedmaßen an, ein Zeichen zu setzen und jemandem zu zeigen, dass ich immer noch existierte, doch sie ließen mich im Stich.
Ich sitze auf meinem Bett. Mein Herz pocht, während mein Vater mich auszieht. Ich möchte es ihn wissen lassen, er soll verstehen, dass ich zu ihm zurückgekommen bin. Er muss mich doch sehen!
Mit dem festen Willen, ihn arbeiten zu lassen, starre ich auf meinen Arm. Jede Faser in mir konzentriert sich auf diesen Moment. Ich starre auf meinen Arm – bittend, schmeichelnd, mahnend und flehend. Mein Herz will vor Freude zerspringen, als ich spüre, dass er meiner Bitte nachkommt: Der Arm wedelt hoch über meinem Kopf! Endlich ist es mir gelungen, mit diesem Zeichen, das zu geben mir so lange die größten Mühen abverlangt hat, den Weg zu mir zurückzufinden.
Doch als ich meinen Vater anschaue, sehe ich in seinen Augen weder Schock noch Überraschung. Er fährt einfach fort, mir die Schuhe auszuziehen.
Dad! Ich bin hier! Siehst du es denn nicht?
Mein Vater beachtet mich nicht. Er zieht mich weiter aus, und mein Blick wandert verdrossen zu meinem Arm. Da erst
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