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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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war man in viel geringerem Maße ausgesetzt), trotzdem fragte sich Lucas oft, wie es wohl wäre, auf festem Grund mit einem Fremden über Gaspreise oder die Existenz der Hölle zu diskutieren. In der Hinsicht war er anders als die meisten Bootsbewohner. Die Mehrheit der Bootsbewohner vertrat den einen Glaubenssatz – Wasser heißt Freiheit. Wenn man sich an einem Anblick sattgesehen hat, man nicht gefunden werden will oder Sehnsucht nach dem schützenden Ufer einer anderen Stadt hat, macht man einfach los und setzt die Segel. Vorwärts geht es über die dunkle Wasserstraße, mit vier Meilen in der Stunde, dann dreht man links nach Camden oder Bethnal Green oder schippert weiter, landeinwärts, und entdeckt ganz neue Spielarten der Stille. Immer weiter, weiter, auf und davon. Noch unsichtbarer kann man nicht werden. Man tilgt sein Heim, zieht keine Spur hinter sich her. Was für ein Leben, wenn man um diese Möglichkeit weiß!
    So aber war es für Lucas nicht. Für ihn war das Leben ein fortwährendes Ankern, eine Alternative und einen Vergleich zu früher kannte er nicht. Er war auf dem Wasser geboren und von seiner Großmutter Toreth dort aufgezogen worden. Lange hatte er geglaubt, dass alle Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, auf Booten lebten, dass dies zum Dasein der Waisen gehörte – oder man kam ins Heim, wo es vermutlich weniger Spinnen, dafür aber auch keine Großmutter und andere Vorzüge gab. Toreth war walisischer Abstammung, fürsorglich, erzählfreudig und hatte Lucas mit ihrer traumauslösenden Geschichte über Peterjohn, den Straßenräuber, der neun Kinder hatte und in eine Zeit gehörte, als die Portobello Road noch eine holprige Landstraße war, durch manches Gewitter geholfen. Sie hatte oft mit Lucas bei schönem Wetter auf dem Bug gesessen, während Denise am Ufer in ihren gärtnerischen Tätigkeiten versank. Wenn Toreth in wahrer Erzählstimmung und der Sonnenuntergang besonders schön war, erzählte sie manchmal noch eine Geschichte, die sich Lucas eingeprägt hatte. Sie handelte davon, wie das Boot an seinen Platz gelangt war, die einzige Geschichte, in der Lucas’ Vater vorkam. Sie spielte im Jahr 1969, im Oktober, an einem Tag, dessen Abend ebenfalls einen bemerkenswert schönen Sonnenuntergang gesehen hatte.
    Antoney, so nannte es Toreth, hatte einen Hang zu »dubioser« Unauffindbarkeit. An jenem Tag, im Zuge einer solchen Unauffindbarkeit, hatte er in Greenford einem befreundeten Musiker für zweihundert Pfund die Silver abgekauft und war mit dem Boot bei Höchstgeschwindigkeit den Grand Union Canal hinabgefahren, obwohl er nie zuvor in seinem Leben ein Boot gesteuert hatte. Unterwegs winkte er Passanten zu und trank weißen Rum aus einem Flachmann, ein Geschenk von einem seiner »dummen kleinen Groupies«. Er entschied sich für jenen Ort, schräg gegenüber der Gaswerke von Kensal Green, und führte Carla – Toreths Tochter – mit verschwommen triumphierendem Blick ihr neues Zuhause vor. »Du wolltest doch ein eigenes Heim!«, sagte er. »Hier ist es. Was sagst du?« Carla war damals hochschwanger, sie stand kurz vor den Wehen. Sie litt unter Hitze, Schwindel und einer gefährlichen Verliebtheit. Sie betrat das schläfrige, sonnenbeschienene Deck und sank auf einen Metallstuhl. »Antoney«, sagte sie, »du bringst mich ins Grab.«
    Dies war auch der Tag, an dem Denise geboren wurde, und nur darum ging es in der Geschichte eigentlich, denn Toreth glaubte, dass Denise mit ihrer frühen Begeisterung für Blumen die Reinkarnation der damals so beliebten Floristin Emily Kirk sein könnte, deren Beerdigung Toreth just an jenem Tag im Jahre 1969 beigewohnt hatte. Emily, oder Em, wie sie allgemein genannt wurde, hatte mehr als sechzig Jahre lang auf dem Portobello Market Blumen verkauft (»Ganz frische Blumen, Sixpence der Strauß!«, wie Toreth es gerne vormachte), und daher war die Beerdigung ein lokales Großereignis. Der Sitte der Marktverkäufer entsprechend, zog der lange gewundene Trauerzug die Portobello Road hinunter, fast zur gleichen Zeit, als Antoney sein Boot aus Greenford wegsteuerte. Dort, wo der Zug vorüberkam, hielten die Standinhaber mit ihrer Arbeit inne und beugten ehrerbietig das Haupt. Später dann, als die Sonne bemerkenswert schön unterging und Em in den Lauf der Geschichte eintrat, half Antoney Carla, von den ersten Qualen der Kontraktionen gepeinigt, den Uferweg hinauf. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus. Der Tod hatte Möglichkeiten

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