Alte Meister: Komödie (German Edition)
Fehler, habe ich das Scheitern seines Schöpfers gefunden und aufgedeckt. Über dreißig Jahre ist mir diese, wie Sie meinen mögen, infame Rechnung, aufgegangen. Keines dieser weltberühmten Meisterwerke, gleich von wem, ist tatsächlich ein Ganzes und vollkommen. Das beruhigt mich, sagte er. Das macht mich im Grunde glücklich. Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, daß es das Ganze und das Vollkommene nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens. Wir halten das Ganze und das Vollkommene nicht aus. Wir müssen nach Rom fahren und feststellen,daß die Peterskirche ein geschmackloses Machwerk ist, der Berninialtar eine architektonische Stumpfsinnigkeit, sagte er. Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen , daß er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle anderen auch, um es aushalten zu können. Wir müssen Bach hören und hören, wie er scheitert, Beethoven hören und hören, wie er scheitert, selbst Mozart hören und hören, wie er scheitert. Und so haben wir auch mit den sogenannten großen Philosophen zu verfahren, sind es selbst unsere Lieblingsgeisteskünstler, sagte er. Wir lieben ja Pascal nicht, weil er so vollendet ist, sondern weil er im Grunde so hilflos ist, wie wir Montaigne wegen seiner lebenslänglich suchenden und nicht findenden Hilflosigkeit lieben, Voltaire wegen seiner Hilflosigkeit. Wir lieben die Philosophie und die ganze Geisteswissenschaft insgesamt ja nur, weil sie absolut hilflos ist. Nur die Bücher lieben wir in Wahrheit, die kein Ganzes, die chaotisch, die hilflos sind. So ist es mit allem und jedem, sagte Reger, auch einem Menschen hängen wir ja nur deshalb ganz besonders an, weil er hilflos ist und kein ganzer, weil er chaotisch ist und nicht vollkommen. Ja, sage ich, El Greco, schön, aber der gute Mann hat keine Hand malen können!, und ich sage Veronese, schön, aber der gute Mann hat kein natürliches Gesicht malen können. Und was ich Ihnen heute über die Fuge gesagt habe, sagte er gestern, kein einziger von allen Komponisten und seien es die größten, hat die vollendete komponiert, selbst Bach nicht, der doch die Ruhe selbst gewesen ist und die reine kompositorische Klarheit. Es gibt kein vollendetes Bild und es gibt kein vollendetes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, sagte Reger, das ist die Wahrheit und diese Wahrheit ermöglicht es, daß ein Kopf wie mein Kopf, der doch zeitlebens nichts anderes ist, als ein verzweifelter Kopf, weiterexistiert. Der Kopf hat ein suchender Kopf zu sein, ein nach den Fehlern, nach den Menschheitsfehlern suchender Kopf, ein das Scheitern suchender Kopf zu sein. Der menschlicheKopf ist nur dann tatsächlich ein menschlicher Kopf, wenn er nach den Menschheitsfehlern sucht. Der menschliche Kopf ist kein menschlicher Kopf, wenn er sich nicht auf die Suche nach den Menschheitsfehlern macht, sagte Reger. Ein guter Kopf ist ein nach den Menschheitsfehlern suchender Kopf, und ein außerordentlicher Kopf ist ein Kopf, der diese Menschheitsfehler findet, und ein genialer Kopf ist ein Kopf, der auf diese aufgefundenen Fehler, nachdem er sie gefunden hat, hinweist und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auf diese Fehler zeigt . Auch in diesem Sinne, sagte Reger, bewahrheitet sich der an sich doch immer nur kopflos ausgesprochene Spruch, wer suchet, der findet . Wer hier in diesem Museum in diesen Hunderten von sogenannten Meisterwerken nach Fehlern sucht, der findet sie auch, sagte Reger. Kein Werk in diesem Museum ist fehlerfrei, sage ich. Das mögen Sie belächeln, sagte er, das mag Sie erschrecken, mich selbst beglückt es. Und es hat ja auch seinen Grund, warum ich über dreißig Jahre in dasKunsthistorische Museum gehe und nicht in das Naturhistorische Museum gegenüber. Er saß noch immer mit dem schwarzen Hut auf dem Kopf auf der Sitzbank, tatsächlich unbewegt und es war klar, daß er jetzt schon die längste Zeit nicht den Weißbärtigen Mann betrachtete, sondern etwas ganz anderes hinter dem Weißbärtigen Mann , nicht den Tintoretto, sondern etwas weit außerhalb des Museums, während ich selbst zwar Reger und den Weißbärtigen Mann beobachtete und doch dahinter den Reger sah, der mir gestern die Fugen erklärt hatte. Ich hatte ihn schon so oft die Fugen erklären hören, daß ich gestern keine Lust hatte, ihm aufmerksam zuzuhören, ich verfolgte zwar, was er sagte, und es war hochinteressant, was er beispielsweise über die
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