Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
in der Kindheit oder in einer späteren Liebesbeziehung tiefe Verletzungen erlebt hat, Erfahrung von Gewalt, Missbrauch, Verlassen- oder Verratenwerden gemacht hat, dem kann es als geradezu lebensrettend erscheinen, zu versteinern. »Nie wieder will ich solchen Schmerz, solche Angst spüren« ist der verständliche Wunsch. In dieser Haltung zu bleiben, macht allerdings einsam, da wir dem Leben keine Chance mehr geben. Wenn wir uns dann auf die Suche nach dem verlorenen Lebenswasser, unseren im Keller des Unbewussten versteinerten Gefühlen machen, wird es zunächst schmerzhaft und gefährlich. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, doch hierbei gilt: Nur offene Wunden heilen!
Eine Figur von entscheidender Bedeutung ist natürlich der alte graue Fischer. Er erinnert an den Kapitän im griechischen Märchen „Der Vater und die drei Töchter“. Er repräsentiert den liebevollen, alten Weisen, versteht etwas vom Wasserelement, von der Welt der Gefühle, der Seelenweisheit und kennt den Weg zur Felseninsel, auf der das Wasser des Lebens zu finden ist. Er ist ein Mittler zwischen den Welten. Nebenbei ist er auch noch ein guter Therapeut: Obwohl er weiß, was den Prinzen blüht, bringt er sie doch auf die Felseninsel, weil ihm bewusst ist, dass er ihnen diese Erfahrung nicht ersparen kann.
Wer ihn aber um Rat fragt, wer sich offenbart wie die Prinzessin, dem offenbart er das Geheimnis der Hexe. Er versteht also auch etwas von der dunklen Seite des Weiblichen. Er weiß unter anderem, dass es nicht gut ist, auf dieser Insel etwas zu essen oder zu trinken. Das ist sehr häufig so im Märchen: Wer Nahrung und damit »Energie« im Reich der negativen Hexe zu sich nimmt, wird in irgendeiner Form davon vergiftet oder wie im vorliegenden Märchen versteinert.
Sehr drastisch wird das dargestellt im Märchen „Schwarze Künste“ aus China. Dort warnt die Braut, die weiß, dass ihre Mutter eine negative Hexe ist, ihren Bräutigam davor, beim Hochzeitsessen etwas zu sich zu nehmen. Aber die Speisen sind so schön angerichtet und duften so wundervoll, dass er sich nicht beherrschen kann und doch einiges isst. Daraufhin wird ihm sterbensübel und er kommt nur mit dem Leben davon, weil seine Frau ihn kopfunter an einem Balken aufhängt und unter seinem Mund ein Feuer anzündet, worauf er beginnt, all das wieder zu erbrechen, was er zu sich genommen hat.
Aus seinem Mund kommen Frösche, Nattern, Würmer, alles mögliche ekelhafte Getier. Viele kennen das: Es kann dir vom besten Essen übel werden, wenn du es in einer Gesellschaft isst, in der die Energie nicht stimmt, die Atmosphäre vergiftet ist. Im Reich der negativen Hexe zu essen und zu trinken bedeutet auch, sich deren Energie »einzuverleiben«, sich von ihr »infizieren« zu lassen. Hier hilft die Distanz des dritten Prinzen, der zumindest zunächst weiß, das trennende Schwert zu gebrauchen, sich nicht einzulassen auf dieses System, sich nicht verstricken, involvieren zu lassen.
Die Hexe in dieser Geschichte ist eine eindeutig negative Gestalt. Positive Hexenweisheit, Heilerqualität ist bei ihr nicht zu spüren. Sie scheint nur daran interessiert zu sein, ihre Männersammlung im Keller zu vergrößern. Sie ist eine weibliche Parallele zu König Blaubart, der in seiner geheimen Kammer die getöteten Frauen verbirgt. Sie ist genauso einsam wie der König in der anderen Welt und im Gegensatz zu ihm scheint sie nicht einmal darunter zu leiden. Macht über Männer ist ihr Trostpreis für echte Liebe. Ihr Herz scheint genauso steinern wie die Männer in ihrem Keller.
Nun gibt es sicherlich Gründe dafür, wenn beispielsweise eine Frau in dieser Haltung gefangen ist. Die Kränkungen des Weiblichen im Patriarchat sind so vielfältig, dass es nicht verwundert, wenn Frauen in die Haltung der männermordenden Hexe und Rachegöttin gehen. Aber diese Einseitigkeit will sterben, hat auf die Dauer kein Mitgefühl verdient, genauso wenig wie die einseitige Jägerhaltung des Fürsten aus dem letzten Märchen. Und besiegt oder überwunden werden kann diese Haltung nur durch die Echtheit der Gefühle, durch die Haltung der Prinzessin.
War im letzten Märchen eine Vision des »Neuen Mannes« zu finden: der Jäger, der auch die Zwergpalme pflanzen kann, der Mitgefühl kennt und doch mit dem Dolch umgehen kann, so entsteht in dieser Geschichte die Vision der »Neuen Frau«. Im Gegensatz zur herzlosen Hexe, kennt sie Mitgefühl und Tränen. Aber sie bleibt nicht
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