Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
hinüber, und auch sie kamen nicht zurück.«
»Das waren meine Brüder!«, rief der älteste Königssohn. »Rudere mich hinüber, ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit bekommen und versuchen, meine Brüder zu befreien!«
Da ruderte der alte Fischer den ältesten Königssohn zu der Felseninsel. Und der Prinz suchte sich den Weg zum Schloss. Als er den Schlosshof betrat, da sah er den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken, und der Hof war menschenleer.
Da betrat der Prinz das Schloss. Er ging durch alle Räume, und er sah keine Menschenseele darin, bis er in den letzten Raum kam. Da saß beim Feuer des Herdes eine alte, hässliche Hexe.
»Gib meine Brüder heraus«, rief der Prinz, »ich bin gekommen, um sie zu befreien!«
Höhnisch lachte die Hexe: »Ich ließ sie zu Stein erstarren. Sie liegen in meinem tiefsten Gewölbe, und bald wirst du ihr Schicksal teilen!«
Der Prinz aber zog sein Schwert und wollte auf sie eindringen. Doch siehe! Die Hexe verwandelte sich plötzlich in das Bild seiner Frau und sprach mit deren Stimme zu ihm: »Sei ohne Furcht. Ich bin gekommen, um dir beizustehen.« Der Prinz ließ sein Schwert sinken, die Hexe legte ihre Hand auf sein Herz, und da hörte es auf zu schlagen, und er erstarrte zu Stein vom Scheitel bis zur Fußsohle. Die Hexe aber rief ihre Diener und ließ den Versteinerten in ein tiefes Gewölbe tragen, wo schon all die andern Versteinerten lagen.
Als nun der älteste Königssohn nicht wiederkehrte, fiel der König in die Nacht der Verzweiflung. Er wurde so krank, dass er dem Tode nahe war. Die Frau des ältesten Prinzen aber weinte und klagte zwölf lange Tage und zwölf lange Nächte, und als sie keine Tränen mehr hatte, legte sie die Kleider ihres Mannes an und ritt schnell zum Tor hinaus, und sie ritt 49 Tage und 49 lange Nächte. Und sie kam zum Ende der Welt an das weite Meer. Am Meeresufer saß ein alter, grauer Fischer bei seinem Boot.
»Gott grüß dich, Vater!«, rief die Prinzessin. »Rudere mich hinüber zu der Felseninsel, wo der Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit fließt.«
»Ach, mein Söhnchen«, sprach der alte Fischer, »bleibe hier. Die Hexe, die über die Insel herrscht und der Brunnen gehört, ist eine mächtige Zauberin. So viele Ritter habe ich hinübergerudert, und keiner ist je wiedergekehrt. Zuletzt brachte ich drei Prinzen hinüber, und auch sie kamen nicht zurück. Darum bleibe hier, du bist noch so jung und zart.«
Da weinte die Prinzessin und bat: »Rudere mich hinüber!«
Der alte Fischer sah sie aufmerksam an und sprach: »Deine Gestalt ist so fein, deine Stimme klingt so hell. Wenn du nicht wie ein Mann gekleidet wärst, würde ich denken, du seist eine Frau.«
»Ich bin es, Vater«, sprach die Frau. »Ich bin die Frau des ältesten Prinzen, den du hinübergerudert hast. Und wenn es mir nicht gelingt, die Prinzen und vor allem meinen lieben Mann zu erlösen, will ich lieber tot sein.«
Da rief der Fischer: »Wenn du eine Frau bist, wird es dir vielleicht gelingen, was so vielen Männern nicht gelungen ist. Die Hexe versteht es, in die Herzen der Männer zu schauen, und sie nimmt die Gestalt der Frau an, die er in seinem Herzen trägt. Du aber bist eine Frau, und sie wird in deinem Herzen nicht das Bild einer Frau erkennen. Aber sieh dich vor; nimm drüben weder Speise noch Trank und sprich kein Wort.«
»Danke, Vater, für den Rat!«, rief die Prinzessin, sprang in den Nachen, und der Fischer ruderte sie zur Felseninsel. Und die Prinzessin suchte sich den Weg zum Schloss. Als sie den Schlosshof betrat, da sah sie den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken. Die Prinzessin schöpfte von dem Brunnen in ihren Krug; als sie sich aber umwandte, stand ein schönes, zartes Mädchen hinter ihr.
»Sei gegrüßt, schöner Held«, sprach es freundlich. »Bestimmt bist du hungrig und durstig von dem langen Weg. Iss und trink und ruhe dich aus bei mir.« Doch die Prinzessin sprach kein Wort und zog ihr Schwert. Die Hexe erschrak, denn sie konnte im Herzen ihres Gegners kein Frauenbild erkennen. Sie verwandelte sich in ein freundliches, altes Mütterchen, das mit zitternder Stimme bat: »Wirf dein Schwert weg, mein Sohn!«
Doch die Prinzessin ließ sich nicht täuschen und bedrohte die Hexe weiter. Noch
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