Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
stecken in der Trauer wie etwa die Prinzessin in der dritten Geschichte, die nicht aufhört, das Totenhemd für den Geliebten zu nähen, sondern bricht auf, »ermannt« sich und gebraucht das Schwert der Entschiedenheit. Aber auch im Gebrauch des Schwertes ist sie angeschlossen an die Energie des Herzens, genau wie der junge Jäger im Märchen davor.
Für eine Frau ist es sicherlich eine große Herausforderung, der rachsüchtigen Hexe in sich selbst zu begegnen, was voraussetzt, die Verwundung im Reich der Männer und Väter genau anzuschauen. Die böse Hexe auf der Felseninsel im Meer hat schließlich auch einen kollektiven Aspekt. Es geht um die seit Jahrtausenden verletzte, verwundete und vernachlässigte Weiblichkeit auf diesem Planeten.
Die Verletzungen, die du als Frau im Reich des Männlichen erfahren hast, wie zahlst du diese heim? Darfst du dir überhaupt zugestehen, dass Rache ein Thema ist für dich? Die rachsüchtige Hexe in sich selbst zu erkennen ist der erste Schritt zu ihrer Entmachtung. Die Heilung geht dann über echten, tiefen, oft uralten Schmerz, der sich verabschieden kann, wenn er erst einmal zugelassen und durchlebt ist. Dann ist auch der Weg wieder frei für die gute Hexe, die etwas von Leidenschaft und Tiefe versteht, von der Lebendigkeit der Gefühle, des Lebenswassers.
Eine Prinzessin, die dieses Lebenswasser erringt und darüber hinaus den Umgang mit dem Schwert der geistigen Klarheit beherrscht, ist des Thrones würdig.
4.7. König Dschaswant von Gudscharat und die Schicksalsgöttin
Im Lande Gudscharat lebte einst der freundliche und weise König Dschaswant. Diesem König lag das Wohlergehen und Glück seiner Untertanen mehr am Herzen, als seine eigene Ruhe und Bequemlichkeit. Häufig mischte er sich verkleidet unter sein Volk, um das Leben der einfachen Menschen mit eigenen Augen zu sehen und noch besser kennenzulernen. Und wo er Armut oder Unglück antraf, da bemühte er sich stets zu helfen.
Einmal kam er in ein kleines Dorf, und da es schon Abend wurde, bat er beim Dorfältesten um ein Nachtlager. Der Älteste und seine Frau nahmen den fremden Gast freundlich auf, boten ihm ein Mahl dar, und dann legten sich alle schlafen. In der Nacht aber genas die Frau des Dorfältesten eines Knäbleins.
Als alle wieder eingeschlummert waren und der König allein noch wachte, sah er plötzlich eine überirdisch schöne Frauengestalt an die Wiege herantreten. Sie trug ein Gefäß mit Kumkum-Tinte und eine Rohrfeder, deren Halter mit Perlen geschmückt war. Die göttliche Frau ergriff die Hand des Knaben und zeichnete auf der Innenfläche verschiedene Linien. Das waren seine Schicksalslinien. Sie zeichnete sehr sorgfältig eine Linie nach der anderen, doch als sie gerade die Lebenslinie zog, brach die Feder plötzlich ab, und die Lebenslinie blieb unvollendet.
Da wurde die Frau traurig und wandte sich zum Gehen. König Dschaswant aber sprang von seinem Lager auf und sprach sie an: »Wer bist du? Ein Trugbild oder ein menschliches Wesen?«
»Lass mich gehen, König«, erwiderte die Frau freundlich. »Ich bin Widhatri, die Göttin des Schicksals. Ich kam, um dem Söhnlein des Dorfältesten sein Schicksal in die Hand zu schreiben. Doch als ich gerade die Lebenslinie zog, brach meine Feder.«
»Und was bedeutet das?«, fragte König Dschaswant voll böser Ahnung.
»Das bedeutet«, antwortete die Göttin, »dass der Knabe bald sterben muss. Und es wird geschehen, wenn er gerade achtzehn Jahre alt ist und Hand in Hand mit seiner Braut das heilige Hochzeitsfeuer umschreitet. Dann wird sich ein schrecklicher Löwe auf ihn stürzen und ihn töten.« Und mit diesen Worten verschwand die Göttin des Schicksals.
Der König dachte bei sich: »Das darf ich nicht zulassen. Wenn ich es vorher weiß, muss ich alle meine Kräfte anspannen, um dieses furchtbare Schicksal zu verhüten.« Und er konnte bis zum Morgen keine Ruhe mehr finden. Als es hell wurde, verabschiedete er sich vom Dorfältesten und seiner Frau, beschenkte sie reich für das Nachtlager und die Bewirtung und sprach schließlich: »Ich bin euer König Dschaswant, doch ihr kanntet mich nicht. Trotzdem nahmt ihr mich liebevoll und freundlich in euer Heim auf und bewirtetet mich vorzüglich. Ich habe noch eine Bitte an euch. Vergesst nicht, mich zur Hochzeit eures Söhnleins zu laden, dass euch heute Nacht geboren wurde! Ich bitte euch darum in aller Dringlichkeit!« Diese Bitte versprach ihm
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