Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
Leben wiederzufinden, müssen wir experimentieren wie der König, der die verschiedensten Wurzeln, Blätter, Blüten und Früchte ausprobiert. Und dann irgendwann kommt Kairos, der gute Moment.
König Dschaswant steht vor dem Feuer, aus dem die Stimme der Kobra kommt. Wichtig ist, dass er »einfach so« in diese Situation kommt, und wichtig ist, dass er »einfach so« springt, ohne zu wissen, was ihn dort im Feuer erwartet. Diese Bedingungslosigkeit ist in vielen Märchen die Voraussetzung für einen Wandlungsprozess. Wir würden ja alle mit Begeisterung ins Feuer springen, wenn wir wüssten, dort wartet die Kobra auf uns, und von ihr bekommen wir den Nektar des Schlangenkönigs. Aber König Dschaswant weiß es nicht, er springt einfach so.
Er folgt der Stimme seines Herzens – und er hat Mitgefühl mit der Schlange, würde ihr jederzeit wieder helfen. Die zusammengerollte Kobra erinnert an die Kundalini-Schlange, die sich die Inder zusammengerollt im Becken der Menschen vorstellen. Sie verkörpert die Urvitalkraft des Menschen, die – so wissen auch Körpertherapeuten – im Becken, der Unterwelt des Körpers, wohnt. Mitgefühl mit der Schlange zu entwickeln heißt also auch, Mitgefühl mit unserer eigenen, unterdrückten Lebendigkeit zu entwickeln, die so oft durch den moralischen Zeigefinger irgendeines »Heiligen« im Feuer schmoren muss. Wie oft schämen wir uns unserer eigenen Lebendigkeit, Lebenslust, Leidenschaft und Sexualität!
Dass die Heilung aus dem Reich der Schlange kommt, ist auch deshalb verständlich, weil sie wie erwähnt das Tier der Wandlung, das Tier der dunklen Mutter, ist und damit den Gegenpol zu der überhöhten Weiblichkeit auf dem Podest darstellt. Der Tonkrug auf dem Podest ist der Gegenpol zu der Höhle dort unten, in der die Schlange wohnt. Beides will wieder zusammengebracht werden.
Auch König Dschaswant macht also eine Entwicklung. So freundlich und weise er am Anfang dargestellt wird, so wenig spürt man bei ihm kraftvoll-dunkle Männlichkeit. Der Sprung ins Urfeuer der Lebendigkeit macht ihm den Nektar des alten Schlangenkönigs zugänglich. Er findet hin zu seiner tiefen Männlichkeit, zum »Tiefen Vater« in sich. Der Weg zur Höhle des uralten Schlangenkönigs ist wie der Weg zu einem alten Schamanen oder Heiler. Anschluss an dessen Kraft zu bekommen ist die Voraussetzung dafür, den toten Jüngling wieder zu heilen, ein vollständiger Mann zu werden. Männliche Ganzheit schließt den Vater im Himmel genauso ein wie den Schlangenkönig in der Tiefe der unteren Welt.
Diese Geschichte wird von vielen Menschen als heilend erlebt. Sie ist eine Geschichte der Kraft, sie macht Mut. Wir haben zu oft die Tendenz, in einer fatalistischen Haltung Schicksal anzunehmen, das vielleicht gar keines ist, und Schicksalssprüche der Kindheit als unabänderlich hinzunehmen, ohne sie zu hinterfragen. Hier hilft die Haltung von König Dschaswant: Gib mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann, die Demut, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
5. Praktische Arbeit mit diesem Buch
Die folgenden Zeilen richten sich an diejenigen, die sich auf das Abenteuer »Selbsterfahrung mit Märchen« einlassen wollen.
Die Arbeit mit inneren Bildern, Imaginationen und Traumreisen spricht direkt dein Unbewusstes an und stößt dort oft Entwicklungsprozesse an, die du vorher nie geahnt hättest und bewusst so nicht gewollt hast. Immer wieder erzählen mir Gruppenteilnehmer, wie sehr ihnen eine bestimmte Geschichte (oder auch nur eine Szene oder Gestalt daraus) noch tage-, wochen- oder monatelang nachgegangen ist.
Und – so wertvoll das Material ist, das die »Märchen-Hebammen« ans Tageslicht bringen, so unangenehm oder Angst machend kann das manchmal sein. Also sei bitte achtsam im Umgang mit den folgenden Anregungen. Die Wirkung der Geschichten ist zwar subtil, kann aber sehr machtvoll sein – unterschätze sie nicht!
Erste Empfehlung: Solltest du ein Märchen nicht nur lesen, sondern erleben wollen, such dir jemanden, der es dir vorliest. Dies kann auch zu mehreren – oder wie bei mir – in größeren Gruppen geschehen. Ich rate dem Zuhörer, die Augen zu schließen – dann wird erfahrungsgemäß das Ohr »größer«.
Beim Hören der Geschichte ist es ratsam, den denkenden Kopf ganz weit wegzuschicken, sich vorzustellen, man könne diese Geschichte »mit dem Herzen
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