Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
hören«.
Während du nun der Geschichte lauschst, spüre nach, welche Szene dich am tiefsten berührt, welche sozusagen deine Szene ist. Denk nicht darüber nach, lass dein Herz entscheiden.
Ist die Geschichte zu Ende gelesen, folgt in meiner Gruppenarbeit– bei weiterhin geschlossenen Augen – eine erste Imagination: »Lass diese Szene vor deinem inneren Auge entstehen, lass sie ablaufen wie einen Film, und schau dir diesen Film an.« Allein dieses »innere Kino« ist oft schon spannend genug.
Jetzt kann die Fährtensuche weitergehen: Welche Gestalt in deiner Szene ist dir jetzt die wichtigste, der/die Hauptdarsteller/in für dich? Das muss nicht eine menschliche Gestalt sein, es kann auch eine Fee sein, es kann ein Baum, eine Pflanze, es kann der Wind oder das Feuer sein. Alles ist erlaubt.
Wenn du noch weitergehen möchtest, kannst du dir vorstellen, in die Haut dieser Gestalt hineinzugehen, mit ihr zu verschmelzen. Dann spüre, wie sich das anfühlt: Welche Stimmung, welches Gefühl, welche Energie ist jetzt in dir? Wo fühlst du deinen Körper am deutlichsten? Es klingt vielleicht unwahrscheinlich, aber ich habe viele Menschen in meinen Gruppen erlebt, die teilweise sogar extrem körperlich reagiert haben, wenn sie sich in der Haut ihrer Gestalt erlebt haben. Häufig erhält man so auch wertvolle Hinweise auf die Natur oder Ursache von Krankheiten oder körperlichen Beschwerden.
Empfehlenswert ist immer, dir Notizen zu machen über deine Bilder, Gedanken und Gefühle, die gerade da sind, solange alles noch »frisch« ist. Es ist häufig so, dass im Unmittelbaren die Szene nur Kopfschütteln hervorruft: Warum gerade diese Szene oder diese Gestalt? Lese ich dann meine Notizen ein paar Tage oder Monate später, kann mir eine plötzliche »Erleuchtung« widerfahren, können Zusammenhänge deutlich werden.
Nun kannst du zum Beispiel diese Gestalt oder ein wichtiges Bild aus deiner Szene malen. Du kannst diese Gestalt körperlich darstellen, du kannst eventuell mit anderen die gesamte Szene theatralisch darstellen oder eine andere Ausdrucksmöglichkeit suchen.
Wichtig ist auf alle Fälle: Jede Gestalt, die dir in solch einer Imagination begegnet, ist in dir. Wenn sie nicht in dir wäre, könntest du sie nicht sehen. Du begegnest immer nur dir selbst! Deshalb gibt es in meinen Gruppen an dieser Stelle immer eine Runde, in der jeder Teilnehmer sich als seine Gestalt in seiner Szene vorstellt, zum Beispiel: Ich bin Schneewittchen im gläsernen Sarg oder der Wolf, der Rotkäppchen verfolgt, oder die Schöne, die das Ungeheuer umarmt, oder der Frosch der an die Wand geworfen wird, oder der Königssohn, der voller Tatendrang das alte Königreich verlässt.
Nun kann ich damit beginnen, diese Märchensituation auf das »richtige Leben« zu übertragen. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ich mich als Schneewittchen im Glassarg erlebe? Dann bin ich in der Regel in einer Lebenssituation, in der ich abgeschnitten bin von meiner Lebendigkeit. In der ich nicht mehr wirklich am Leben teilnehme, blutleer geworden bin.
Wenn ich mich dagegen als den Königssohn erlebe, der gerade das alte Königreich verlässt, befinde ich mich vermutlich innerlich in einer Aufbruchsphase. Umarme ich gerade das Ungeheuer, bin ich vielleicht gerade dabei, mich mit der »ungeheuerlichen« Energie meiner Leidenschaft und Sexualität anzufreunden. Werde ich als Frosch von der Prinzessin an die Wand geworfen, ist mit Sicherheit ein Beziehungsthema hochaktuell.
Wenn du diese Bilder für dich nutzen willst, ist es wichtiger, dir deine Interpretation zu erlauben, als die Szene richtig zu deuten. Natürlich ist es interessant, die Szene »Schneewittchen im Sarg« im Gesamtzusammenhang des Märchens zu verstehen: Die böse Stiefmutter hat Schneewittchen den vergifteten Apfel angedreht. Aufs wirkliche Leben übertragen: Es gibt Mütter, die neidisch auf die Schönheit und Attraktivität heranwachsender Töchter sind und deren Weg zu Erotik und Männerbeziehungen »vergiften«.
Die logische Frage, die man sich nun stellen kann, wäre etwa: Wer hat mir den vergifteten Apfel gereicht, wann war das und warum? In einem sexualfeindlichen Familienklima beispielsweise gibt es regelmäßig solche Äpfel zu essen (auch für Männer!), und dann findet man sich als Erwachsener oft in der Unberührbarkeit und Leblosigkeit des Glassarges wieder. Im Kontext des Märchens also ist diese Glassarg-Situation sicherlich
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