Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
verhüten.«
Als der Tag kommt, an dem sich das Orakel erfüllen soll, trifft Dschaswant jede nur mögliche Vorkehrung, um das Unglück zu verhindern. Er lässt das ganze Dorf von Soldaten umstellen, und trotzdem passiert das Schreckliche: Der Löwe stürzt sich auf den Bräutigam und tötet ihn. Ganz so weise ist König Dschaswant anscheinend doch nicht. Er vermutet die Gefahr nur im Außen, lässt das Dorf gegen Außenfeinde beschützen. Dass die Gefahr direkt aus dem Inneren droht, ahnt er nicht.
Wie oft schützen wir uns gegen Außenfeinde, wittern das Böse nur dort draußen, anstatt es in uns selbst zu erkennen, zu erahnen, wie viel potenziell destruktive Energie mitten im Dorf, in unserer eigenen Mitte wohnt! Und woher kommt die destruktive Kraft des Löwen? Aus dem Tonkrug auf einem Podest. Das weist gleich zweimal auf das mütterliche Element: Ton besteht aus Erde, der Krug ist ein weiblich-mütterliches Symbol. Dass er auf einem Podest steht, deutet auf eine idealisierte, überhöhte Weiblichkeit hin. Hier könnte man eine Verbindung zur Schicksalsgöttin vermuten, die ja auch als überirdisch schöne Frauengestalt dargestellt wird.
Aus diesem Reich der überhöhten Weiblichkeit also kommt der tödliche Löwenbiss. Am Hochzeitstag geschieht das Drama. Das sollte man symbolisch verstehen: Hochzeit steht für Vereinigung der Gegensätze, unter anderem die Begegnung von Mann und Frau, auch in der Sexualität. Dort also ist das Problem angesiedelt, was bei einem unverheirateten König nicht verwundern muss! Die Einseitigkeit der Himmelskönigin, einer nur lichten Maria-Weiblichkeit tötet genau das: Die irdisch-sinnliche, sexuelle Beziehung zu einem Mann.
Um diese Einseitigkeit aufzuheben, muss irgendwann der Gegenpol auf den Plan treten, und das geschieht auch am Ende der Geschichte in Gestalt der Kobra, die ins Feuer geworfen wurde. Von wem? Vom heiligen Narada. Obwohl es sich um ein indisches Märchen handelt, können wir mit Leichtigkeit Parallelen zu unserem Kulturkreis ziehen. Auch wir haben die Schlange ins »Fegefeuer« geworfen, sie gilt in der Bibel als Tier des Bösen, man denke nur an ihre Rolle im Paradies. Auch repräsentiert sie die dunkle Seite der Weiblichkeit, die wir als Hexe verbrannt haben.
Übrig geblieben ist bei uns eine einseitig lichte Weiblichkeit, verkörpert durch Maria. Und Maria, die manchmal boshaft als »die Dame ohne Unterleib« bezeichnet wird, ist tödlich für vollständige Beziehung, ist tödlich für Sexualität. Sie beißt am Hochzeitstag zu. »Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten!«
Die Lebensfeindlichkeit solch einseitiger Ideale holt uns manchmal ein, gerade wenn wir heiraten, also wenn wir in Beziehung gehen. Wenn wir mit diesem gespaltenen Frauenbild (Maria – Hexe) zu tun hatten, in diesem Sinne religiös erzogen wurden, werden wir es mit dem Löwenbiss zu tun bekommen, so sehr wir uns auch dagegen wehren möchten. Gelernte Moralvorstellungen, Glaubenssätze aus der Kindheit sind sehr machtvoll, mögen sie auch noch so tief aus dem Unbewussten, aus unserem Inneren (dem Inneren des Dorfes) heraus wirken.
Aber nun geschieht das Entscheidende: König Dschaswant gibt nicht auf. Nichts kann ihn daran hindern, »zu versuchen«, diesem Sohn, diesem Entwicklungsimpuls, »das Leben wiederzugeben«. Wichtig ist hier auch die Wortwahl, er sagt nicht: »Ich werde es schaffen!«, sondern: »Ich werde [alles] versuchen!«
Nun beginnt der Weg der Heilung: König Dschaswant nimmt – gegen alle Konventionen – den Leichnam des Bräutigams mit sich und bahrt ihn im Gewölbe des Schlosses auf. Er bringt den – vorerst – getöteten Entwicklungsimpuls ins Zentrum des Bewusstseins, in die Hauptstadt, in sein Schloss. Er sucht die berühmtesten Ärzte und auch die weisen alten Kräuterweiblein auf, er holt sich therapeutische Unterstützung, könnte man sagen. Wenn wir in unserem Leben einen derart drastischen Einschnitt, einen solchen Bruch erleben, wie König Dschaswant mit dem Tod dieses Sohnes (subjektstufig gesehen: des inneren Sohnes), ist es sehr weise und mutig, wenn wir uns zunächst helfen lassen.
Für einen König ist es sicherlich nicht einfach, sich einzugestehen, hilfsbedürftig zu sein, nicht alleine zu können. Und doch ist genau das der erste Schritt. Irgendwann aber muss auch die beste Therapie ein Ende haben. Dann heißt es, selbst in den Dschungel gehen, Heilpflanzen und Wurzeln suchen. Um das neue
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