Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Eisenhut ein. Gegen Mitternacht, als sein Fieber zu sinken begann, rief sie Luma und Keshna zu sich und wies sie an, Keru zu beobachten, während sie hinausging, um etwas zu essen.
Soweit Luma erkennen konnte, nahm Keru ihre Anwesenheit überhaupt nicht wahr. Er lag nach wie vor im Delirium, und als der Morgen graute, begann sein Fieber langsam wieder zu steigen. Als er zu toben und zu murmeln anfing, kehrte Marrah zurück und schickte Luma und Keshna aus dem Zelt. Sie sah, daß der Eisenhut nicht geholfen hatte, und sie wollte allein mit Keru sein, wenn er wieder in das zurückkehrte, was er »den Tunnel« nannte. Marrah hatte noch nie einen Fiebertunnel gesehen, aber sie ahnte, was am anderen Ende auf Keru wartete.
25. KAPITEL
Marrah traf keine speziellen Vorbereitungen, um Batal um Hilfe zu bitten. Als offensichtlich war, daß sie nichts mehr für Keru tun konnte, führte sie Luma einfach zu einer Lichtung, wo sie außer Sicht- und Hörweite des Lagers waren. Sobald sie dort ankamen, öffnete sie den Leinenbeutel, den sie mitgenommen hatte, zog ein Netz heraus, ging zu einer kleinen Gruppe von Weiden, streifte ein paar Blätter ab und hängte das Netz zwischen zwei Ästen auf.
»Wir werden versuchen, Vögel zu fangen?« erkundigte Luma sich. Sie war so aufgeregt, daß ihre Stimme bebte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Leute über Visionen sprechen hören, und jetzt würde sie selbst eine haben.
Marrah zog das Netz zurecht und trat einen Schritt zurück, um es zu begutachten. »Nein, wir werden keine Vögel fangen. Das hier habe ich aus meinem eigenen Haar gemacht, als ich in Kataka initiiert wurde. Als ich damit fertig war, versprach mir meine Lehrerin, daß ich in diesem Netz immer das einfangen würde, was ich brauchte, und so ist es tatsächlich immer gewesen.« Sie betrachtete das feinmaschige Gebilde fast liebevoll. »In diesem Netz habe ich die Vision eingefangen, die Shara vor Vlahan rettete. Heute hoffe ich, eine einzufangen, die Keru heilen wird.«
»Und wie funktioniert das?«
»Das wirst du bald sehen, aber du darfst jetzt keine Fragen mehr stellen.«
»Warum nicht?«
Marrah lächelte. »Du fängst ja schon wieder an. Diese eine Frage werde ich dir noch beantworten, aber keine weiteren: Du bist nicht initiiert worden. Du bist keine Priesterin. Und du bist nicht nach Kataka gegangen und hast bei meiner Lehrerin, der Imsha, studiert. Sie war sehr alt und sehr weise, und ihr Gesicht war so dunkel wie das Antlitz der Dunklen Mutter. Als ich sie kennenlernte, mußte ich ihr versprechen, niemandem die Geheimnisse meiner Ausbildung zu verraten, der nicht das Recht erworben hatte, sie auf die gleiche Weise zu erfahren, wie ich sie erfahren hatte. Von jetzt an wirst du mir einfach vertrauen und das tun, was ich dir sage. Hast du Angst?«
»Ja.«
»Ich habe mir schon gedacht, daß du dich vielleicht fürchtest, deshalb möchte ich dir etwas geben, bevor wir anfangen.« Marrah löste die Lederschnur, die sie um den Hals trug. An der Schnur baumelte ein kleines Stück Bernstein, ungefähr so groß wie die Kuppe ihres Daumens. In dem Bernstein war ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln eingeschlossen. »Weißt du, was das ist?«
Luma nickte. »Das ist die Träne des Mitgefühls. Du hast mir oft erzählt, daß du sie damals, lange bevor ich geboren wurde, von den Priesterinnen von Nar geschenkt bekamst, als du auf deiner Reise vom Meer der Grauen Wogen nach Osten ihre heiligen Höhlen besuchtest. Und du hast gesagt – daran erinnere ich mich noch ganz genau –, daß die Priesterinnen dir erklärt haben, daß keiner, der die Träne trägt, jemals zu Schaden kommt.«
Marrah zog die Lederschnur auseinander und band sie Luma um den Hals. »Sie gehört jetzt dir«, sagte sie. »Deshalb wirst du keine Angst haben, wenn ich dich in die Traumwelt mitnehme.«
Luma berührte den Bernsteintropfen mit einem Finger. Sie fühlte seine kühle, harte Glätte. »Ich werde gut darauf aufpassen«, versprach sie. »Wenn wir aus der Traumwelt zurückkehren, werde ich sie dir ohne einen Kratzer oder eine abgestoßene Stelle zurückgeben.«
»Ich glaube, du verstehst nicht ganz. Ich habe nicht gesagt, daß ich dir die Träne des Mitgefühls
leihe.
Ich
schenke
sie dir. Sie gehört dir für immer. Und jetzt komm, wir müssen anfangen. Setz dich hier zu mir in den Sand und leg den Wasserschlauch so ab, daß wir leicht drankommen. Die Traumwelt ist keine Wüste, aber man wird sehr durstig, wenn man sie durchquert.«
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