Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
seines und gab ihr einen langen Kuß.
»Was tust du denn hier?« rief er. »Ein paar Händler haben dich in Mahclah gesehen. Sie sagten uns, die Nomaden hielten dich und Keshna gefangen. Aber du bist in Sicherheit. Du brauchst nicht gerettet zu werden. Was ist passiert?« Er küßte sie abermals, und Luma lachte glücklich und erwiderte seinen Kuß. Die Küsse raubten ihr den Atem, so daß es wohl noch eine Weile dauern würde, bis sie in der Lage war, alles zu erklären.
24. KAPITEL
Marrah griff nach der Lederklappe, die den Eingang von Kerus Zelt verschloß, machte Anstalten sie beiseite zu schieben, und zögerte. sie Keru das letzte Mal gesehen hatte, war er ein kleiner Junge gewesen. Jetzt war er ein erwachsener Mann. Er war sehr krank, lag womöglich im Sterben. Changar hatte ihn gegen sie aufgehetzt. Kerus ganzes Leben war eine einzige Qual gewesen, und sie war nicht da gewesen, um ihm zu helfen, ihn zu lieben oder irgend etwas von dem zu tun, was eine Mutter normalerweise für ihren Sohn tat. Was würde er wohl sagen, wenn er sie sah? Würde er sie verfluchen? Würde er wie ein Fremder für sie sein? Würde er sie überhaupt erkennen?
Marrah blickte über ihre Schulter zurück und sah Luma und Keshna, die ein paar Schritte abseits vom Zelt standen und sie beobachteten. Ob die beiden auch nur im entferntesten ahnten, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging? Luma und Keshna glaubten, sie könnte Keru heilen, und vielleicht konnte sie das ja auch; sie hoffte es zumindest inständig; sie betete zu Batal, daß sie dazu imstande sein würde. Aber die beiden überschätzten ihre Fähigkeiten. Sie sahen sie nicht so, wie sie sich selbst sah: eine gewöhnliche Frau, unsicher, zögernd, von banger Furcht erfüllt.
Marrah wandte sich wieder zum Zelt um. »Mach, daß er mich wenigstens wiedererkennt«, betete sie. »Mach, daß er mich erkennt, auch wenn er mich vielleicht haßt. Laß nicht zu, daß ich ihn gefunden habe, nur um ihn sterben zu sehen.« Sie schob die Zeltklappe beiseite, trat über die Schwelle, und blieb einen Moment neben dem Eingang stehen, damit ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten. Die Luft roch nach Staub, Holzrauch und Krankheit. Nach und nach konnte sie einzelne Gegenstände ausmachen: einen Korb, die Feuergrube, und dort, in der Nähe des Feuers, einen Stapel Teppiche und Decken. Sie ging zur Feuergrube, hob einen Stock auf und stocherte in den glühenden Kohlen, um das Feuer neu zu entfachen.
Die Flammen loderten auf, und dann sah sie ihn. Er lag auf den Teppichen, die Arme von sich gestreckt wie ein Mann, der von einem gewaltigen Schlag niedergestreckt worden war, doch seine Augen waren offen. Er war schrecklich abgemagert, bleich und geschwächt von dem zehrenden Fieber, aber sein Gesicht unterschied sich nicht einmal so sehr von dem Gesicht des kleinen Jungen, den sie verloren hatte. Sein Haar hatte noch immer die Farbe von Weizenstroh, seine Augen waren noch immer braun, er hatte noch immer Stavans energisches Kinn, ihre Nase und Großmutter Sabalahs vollen Mund. Als Marrah dort stand und den Mann mit dem Jungen verglich, kam sie zu dem Schluß, daß sie ihn überall wiedererkannt hätte.
»Keru«, flüsterte sie.
Er sagte nichts. Marrah ging zu ihm, kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand. Seine Handflächen waren heiß, und seine Haut war so trocken, daß sich kleine Schuppen lösten, als sie ihn berührte. Sie betrachtete sein Gesicht noch eingehender, und diesmal bemerkte sie seine aufgesprungenen Lippen und die eingesunkenen Augen. Sie hatte solche Lippen und Augen häufig bei todkranken Pilgern gesehen. Er liegt im Sterben, dachte sie, und sie fühlte die Panik in sich aufwallen, die völliger Hilflosigkeit entspringt.
»Keru, weißt du, wer ich bin?«
Er starrte sie verständnislos an.
»Keru, ich bin deine Mutter. Ich bin's, Marrah. Kannst du mich hören? Weißt du, wer ich bin?«
»Roter Tunnel«, murmelte er. »Kalt.« Er zitterte, als ihn ein Fieberschauer überlief. »Weiße Bären und Schnee. Bist du aus Eis, Keshna? Ist jetzt Winter?«
»Ich bin nicht Keshna, Keru. Ich bin Marrah, deine Mutter. Wir haben jetzt Sommer, nicht Winter. Ist dir kalt?« Sie hörte die Furcht in ihrer Stimme, aber Keru schien nichts zu merken. Er nickte nur.
»Kalt«, erwiderte er.
Sie bückte sich, um weitere Decken über seinen mageren, zitternden Körper zu ziehen.
»Mutter?«
Marrah fuhr herum, überrascht und voller Angst, daß sie ihn vielleicht nicht richtig
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