Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
sie hier lebte, umringt von Wasser und in Sicherheit vor den Nomaden, aber Keshna hatte recht. Sie fühlte sich wie in einer Falle, und die Insel langweilte sie zu Tode.
Seit dem Tag, an dem ihr Bruder zum zweiten Mal verschwunden war, hatte sie im Exil gelebt, zu ihrer eigenen Sicherheit von Shara fortgeschickt, denn ihre Mutter war überzeugt gewesen, die Nomaden würden Luma als nächste entführen. Acht Jahre lang –mehr als die Hälfte ihres Lebens – war sie in diesem perfekten, von ihrer Mutter geschaffenen kleinen Heiligtum geschützt gewesen, während oben im Norden tapfere Verbände junger Leute einen verzweifelten Kampf führten, um die Nomaden wieder in die Steppe zurückzutreiben. Als Kind hatte es Luma nichts ausgemacht, daß die Insel so klein war, aber in den letzten drei Jahren hatte sie sich gefühlt wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln. Keshna hatte jedes zweite Jahr Gelegenheit, von Shara nach Alzac zu reisen, wenn ihr Vater in den Süden kam, um die sharanische Gemeinde auf der Insel zu verwalten, und Marrah fuhr in regelmäßigen Abständen nach Shara hinauf, um Arangs Platz im Rat der Ältesten einzunehmen. Aber Lumas Leben war, abgesehen von kurzen Ausflügen zum Festland, seit vielen Jahren von Wasser begrenzt.
Keshna sah die Ruhelosigkeit in Lumas Augen und wußte, daß es an der Zeit war, mit ihrem Plan herauszurücken. Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen fast Lumas Ohr berührten. »Ich finde, wir sollten von dieser Insel verschwinden«, flüsterte sie. »Ich finde, wir sollten aus Tante Marrahs reizendem kleinen Paradies fliehen und in den Norden gehen, um mit Ranala und den Schlangen zu kämpfen.« Es war nicht notwendig zu flüstern, denn sie waren ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, aber Keshna ließ keine Chance vorübergehen, dramatisch zu sein.
Luma fühlte eine freudige Schockwelle durch ihren Körper branden. Keshna hatte gerade das ausgesprochen, was sie selbst zu gerne gesagt hätte: daß ihre Mutter einen Fehler gemacht hatte, als sie versuchte, sie vor Gefahr zu schützen; daß Alzac ein Heiligtum in einer Welt war, die nicht länger existierte. Ranala war ihre ältere Cousine, und die Schlangen waren der berühmteste Krieger-verband, den die Mutterleute jemals hervorgebracht hatten. Einen kurzen Moment lang malte Luma sich sehnsüchtig aus, wie sie hoch zu Roß dahingaloppierte und ein Nomadenüberfallkommando über den Haufen ritt, während sie ihren Speer schwenkte und den Namen der Göttin Batal schrie, bis der Feind in Panik in alle Richtungen auseinanderstob.
Keshna legte eine Pause ein, wohl wissend, daß sie Luma geködert hatte. Sie lehnte sich zurück und lächelte verführerisch. »Du fragst dich wahrscheinlich, wie wir ohne Boot nach Shara kommen sollen, wie wir es anstellen, uns von Mädchen in Krieger zu verwandeln, und wo wir die Kriegskunst lernen können. Nun«, fuhr sie mit einer weitausholenden Geste fort, »das ist alles kein Problem. Es gibt reichlich Bögen und Speere, auch wenn sie eigentlich für die Jagd gemacht wurden und nicht zum Kämpfen. Wir werden ein paar Waffen auftreiben und heimlich üben. Ich kann schon ziemlich gut damit umgehen, und in ein paar Monaten kann ich dir die Grundkenntnisse beibringen, und ...«, erneut legte sie eine dramatische Pause ein, »... wir werden kein Boot brauchen, um nach Shara zu kommen, weil wir nämlich Pferde kaufen werden.«
»Pferde!«
»Pferde, richtig. Du weißt schon, diese Tiere, die die Schlangen den Nomaden stehlen und mit denen sie in die Schlacht reiten. Du weißt doch noch, was ein Pferd ist, nicht wahr, Cousine? Oder bist du schon so lange auf dieser Insel, daß sich dein Gehirn in einen Klumpen feuchten Ton verwandelt hat?«
Luma richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, und die war beträchtlich. »Natürlich weiß ich noch, was Pferde sind, aber kannst du mir mal verraten, womit du welche kaufen willst?« Es war eine praktische Frage, doch in ihren Ohren rauschte aufgeregt das Blut, und sie wandte nicht – wie es ihre Stiefschwester Driknak getan hätte –, ein, daß ihre Mutter Marrah Pferde auf Alzac verboten hatte und daß Keshna sich schämen sollte, so etwas auch nur vorzuschlagen.
Keshna sah sich vorsichtig nach allen Seiten um und löste dann die Schnur des Lederbeutels an ihrer Taille. »Hiermit werden wir sie kaufen«, verkündete sie und zog etwas aus dem Beutel, bei dessen Anblick Luma überrascht nach Luft schnappte. Es war eine Kette aus goldenen Pferden – eine
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