Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
Bauch kroch, besaß er jedoch die Geschmeidigkeit und Lautlosigkeit eines Löwen auf der Jagd.
    Während er immer näher an die Kinder herankroch, empfand Changar wachsende Verachtung für sie und ihre Eltern. Wäre dies ein Hansi-Lager und nicht eine Stadt des Muttervolkes, wäre schon längst jemand auf ihn und seine Gefährten aufmerksam geworden und hätte Alarm geschlagen. Wilde Hunde hätten sie aufgespürt und in Stücke gerissen; oder ein scharfäugiger Wachtposten hätte bemerkt, daß die Spatzen plötzlich ohne ersichtlichen Grund aus dem Gebüsch aufflogen. In der Steppe hätte er sich niemals so nahe an den Feind heranschleichen können, ohne entdeckt zu werden, und man hätte eine Gruppe kleiner Kinder niemals derart unbewacht herumlaufen lassen; aber die Mutterleute waren Dummköpfe. Sie schienen immer noch zu glauben, die Welt sei ein hübscher, friedlicher, kleiner Garten, wo ihnen doch jedes Hansi-Kind über fünf Jahre sagen konnte, daß die Welt ein Ort des Verrats und der Heimtücke war, wo Überfälle aus dem Hinterhalt und ein plötzlicher Tod auf der Tagesordnung standen.
    Als Changar das letzte Stückchen Deckung erreichte, bevor die Felder in eine ununterbrochene Fläche von Stoppeln übergingen, war er nahe genug, um die Gesichter einzelner Kinder zu erkennen. Er musterte sie rasch und runzelte die Stirn. Es waren zum größten Teil dunkelhaarige Bälger, klein und zierlich, mit runden Gesichtern und bräunlicher Haut. Selbst die Jungen waren ebenso hübsch wie die Mädchen. Changar ließ seinen Blick über die braunen und schwarzhaarigen Köpfe wandern und hielt Ausschau nach einem blonden Schopf. Soweit er wußte, gab es nur ein einziges goldblondes Kind in Shara, und als er einen blonden Kopf in der Menge auftauchen" sah, mußte er mühsam einen Triumph-schrei unterdrücken.
    Dann schaute er noch einmal genauer hin und verfluchte sämtliche Götter und sich selbst gleich mit dazu. Das Kind war ein Mädchen! Was in Hans Namen tat ein Nomadenmädchen in der Stadt der Mutterleute? War sie eine Geisel? Hatte einer der rebellischen Häuptlinge sie dem Verräter Stavan als Geschenk geschickt? Wer immer sie war, ihre Anwesenheit war ein schlechtes Omen. Changar betrachtete die kleine Nomadin mit wachsender Verärgerung. Sie hielt die Schnur eines weißen, vogelähnlichen Dings in der Hand und versuchte, es zum Fliegen zu überreden. Das Gebilde stieg ein kleines Stück in die Höhe und kippte schwerfällig auf die Seite; Changar konnte sehen, daß es niemals auf dem Wind schweben würde.
    Sie ist dumm, dachte er, aber was kann man schon von einem Mädchen erwarten? Es hatte ihn immer maßlos geärgert, daß er zweimal von einer Frau besiegt worden war, und als er dort lag und das blonde Mädchen beobachtete, empfand er die heftige Verbitterung eines Mannes, der wieder einmal von einem schwächeren Feind getäuscht worden war.
    Dann sah er den Wolf. Er war schwarz, und er flog hoch am Himmel, so hoch, daß er nicht größer zu sein schien als seine Handfläche. In dem Moment, in dem er den Wolf entdeckte, wußte er, wer am anderen Ende der Schnur sein würde, und als er hinschaute, sah er das Kind, nach dem er gesucht hatte. Es war ein Junge, blond und stämmig, mit langen Gliedern und einem ecki-
    8 gen, sonnenverbrannten Gesicht. Er war ein Stück gewachsen seit Changar ihn das letzte Mal gesehen hatte, und er rannte so schnell über die Stoppeln wie ein edles Fohlen.
    »Keru!« rief das blonde Mädchen plötzlich. »Komm her und hilf mir. « Zu Changars Entzücken sprach sie Hansi, und der Junge schien sie zu verstehen, denn er machte sofort kehrt und lief in ihre Richtung. Also hatte er in dem Jahr, das er bei seiner Mutter verbracht hatte, die Sprache der Steppe nicht vergessen!
    Changar erkannte, daß er sofort handeln mußte, sonst würde der Junge zu weit weg sein, um ihn zu hören. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund und imitierte das
Tschack-Tschack
einer weißkehligen Grasmücke.
    Als der Junge den Vogelruf hörte, blieb er abrupt stehen, legte den Kopf schief und lauschte aufmerksam. Er mußte diesen typischen Ruf in den vergangenen zwölf Monaten schon viele Male gehört haben, denn in den Mutterländern gab es viele Grasmücken, dennoch reagierte er darauf. Changar fühlte sich durch seine Reaktion ermutigt, aber er wußte, daß ein Kaninchen erst dann sicher gefangen war, wenn es in die Falle gehoppelt war.
    Er legte seine Hände erneut um den Mund und wiederholte den

Weitere Kostenlose Bücher