Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
war allerdings eine andere Sache. Marrah inspizierte ihn und runzelte besorgt die Stirn. Keru hatte zuerst begonnen, einen bunten Drachen zu bauen, ähnlich wie Lumas. Jetzt sah Marrah, daß er die roten und blauen Stoffstücke beiseite gelegt und sich statt dessen für einen alten schwarzen Vorhang entschieden hatte.
Keru hatte den Vorhang mit seiner Messerspitze bearbeitet und sorgfältig die Form eines großen schwarzen Wolfes herausgeschnitten. Jetzt schnitt er ein Stück gelben Stoffs zu einem Sonnenrad zurecht, das er offenbar auf den Rücken des Wolfes kleben wollte. Der Wolf war das Symbol eines mächtigen Nomadenstammes, der Hansi, und die Sonne war das Zeichen ihres Himmelsgottes, Han. Bei dem Drachen irgendeines anderen Kindes wäre diese Zusammenstellung vielleicht nur Zufall gewesen, nicht jedoch bei Keru. Als er gerade vier Jahre alt gewesen war, war er von einem Hansi-Trupp entführt und fast ein ganzes Jahr lang von Stavans Halbbruder Vlahan gefangengehalten worden.
Beim Anblick des schwarzen Wolfsdrachens überlief Marrah ein kalter Schauder. Sie ließ sich jedoch nicht anmerken, was ihr durch den Kopf ging, und als Keru schließlich das Sonnensymbol auf den Rücken des Wolfes geklebt hatte, rief sie ihn zu sich und umarmte ihn. Dann rief sie auch die Mädchen, damit diese sich nicht zurückgesetzt fühlten, und drückte sie ebenfalls liebevoll an sich. Eine Weile saßen die Kinder da, die Arme um Marrah und Stavan geschlungen, und plapperten aufgeregt über das Drachenfestival, das am nächsten Morgen stattfinden sollte, wenn der Wind bis dahin nicht abflaute. Es war eine fröhliche Unterhaltung, und als Stavan schließlich aufstand, um die vier ins Kinderzimmer zu ihren Schlafmatten zu bringen, hatte sich Marrahs Unruhe fast wieder gelegt.
Kurz vor Tagesanbruch hatte Changar sich mit Hilfe seiner Lehrlinge zu einem Dickicht begeben, um im Schutz der hohen Büsche seinen Beobachtungsposten einzunehmen. Die Büsche waren ein perfektes Versteck, nahe an der Stadt, aber nicht so nahe, daß er Gefahr lief, entdeckt zu werden. Er hatte den Jungen befohlen, seinen Umhang zu einem Sitzpolster zusammenzufalten, während er die letzten Reste Dörrfleisch gegessen hatte, ohne ihnen ein Stückchen davon anzubieten; dann hatte er sich auf dem Polster niedergelassen, um zu warten.
Interessiert hatte er beobachtet, wie die ersten Kinder aus der Stadt gekommen waren. Als sie ihre Drachen steigen ließen, hatten ihn die fremdartigen, farbenfrohen Gebihde völlig verwirrt. Die Nomaden hatten zwar reichlich Wind in der Steppe, aber sie hatten kein Leinen, und da sie ihre Schafwolle zu Filz zusammen-preßten, statt sie zu spinnen und Stoffe daraus zu weben, hatten sie niemals ein Tuch entwickelt, das leicht genug war, um in der Luft zu schweben. Zuerst hatte Changar geglaubt, die Kinder ließen Falken fliegen, aber bald wurde ihm klar, daß kein Vogel in Form oder Farbe diesen seltsamen Gebilden glich. Allmählich war ihm aufgegangen, daß die schwebenden Figuren mit fast unsichtbaren Schnüren an den Händen ihrer kleinen Besitzer festgebunden waren.
Er hatte seinen Gehilfen befohlen, ihn näher heranzuführen, damit er die Schnüre sehen konnte, aber er hatte sich den Kindern äußerst vorsichtig genähert und sich zuerst im Schutz der höheren Büsche vorwärtsbewegt, um dann bäuchlings durch das niedrige
Gebüsch am Rand der Felder zu kriechen, während seine Gehilfen hinter ihm herrobbten, falls er wieder aufstehen wollte. Solange er sich auf dem Bauch bewegte, brauchte er ihre Hilfe nicht. Changar war recht geschickt im Kriechen; schließlich hatte er sehr viel Übung darin, seit Marrah einen Krüppel aus ihm gemacht hatte, indem sie ihn auf den Boden des tiefen Grabes stieß, in dem der alte Zuhan beerdigt werden sollte – gerade als er, Changar, im Begriff gewesen war, sie dem Gott Han zu opfern. Dies war ein Teil der Rechnung, die er mit ihr begleichen wollte, allerdings nur ein kleiner Teil.
Als er durch das Unterholz kroch, fühlte Changar, wie neue Hoffnung in ihm keimte. Eine Zeitlang achtete er nicht mehr auf die Kinder, sondern konzentrierte sich ganz auf den Boden unter seinen Händen. Er sah jeden Zweig, jedes Blatt, jede harte Stoppel. Seine Beine waren nicht so stark verkrüppelt, daß er gar nicht mehr gehen konnte, aber wenn er aufrecht stand, mußte er sich auf zwei Stöcke oder auf seine beiden Gehilfen stützen, und er konnte nicht ohne Hilfe auf ein Pferd steigen. Wenn er auf dem
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