Altstadtfest
einschaltest, wirst du so mit Informationsmüll zugeschmissen, dass du am Schluss überhaupt nichts mehr weißt.«
»Und wer war nun der Amokläufer?«
»Siehst du, das weiß ich nämlich auch nicht: ob der Typ ein Amokläufer war. Gelaufen ist er jedenfalls nicht, sondern er stand am vorderen Rand der Konzertbühne auf dem Uniplatz und feuerte wahllos in die Menge.«
»Eben. Ein Amokschütze.«
»Er war maskiert, heißt es. Anschließend flüchtete er, und zwar so, dass sich keine Spur von ihm fand. Vielleicht hatte er Fluchthelfer, Komplizen. Ziemlich ungewöhnlich für einen Amokschützen.«
»Ekelhaft«, sagte sie nach einer Pause.
»Ja, so sind diese Neonazis.«
»Welche Neonazis?«
»Das musst du die Neckar-Nachrichten fragen. Dort ist heute die Rede von einer rechtsradikalen Splittergruppe, die auf sich aufmerksam machen wollte. Amok statt Aufmarsch. Heiße Geschichte.«
»Wie bitte? Das ist …«
»… das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist, genau.« Ich zog das Blatt unter dem Telefonbuch hervor. »Umso mehr wert ist diese Ausgabe allerdings unter medialen Gesichtspunkten. Ich möchte nicht wissen, mit was für einer Auflage die heute an den Start gegangen sind.«
»Meinst du, es stimmt?«
»Ach was. Morgen war es eine linke Splittergruppe, übermorgen al-Qaida – Hauptsache, dem bürgerlichen Feindbild ist Genüge getan. Man lehnt sich zurück, wischt sich die Finger ab und ist zufrieden: Die also waren es. Hätt ich mir denken können. Hab ich doch immer gesagt! Dann verschärft man die Gesetze, jeder von uns muss eine Speichelprobe abgeben, ein paar Ausländer werden vor die Tür gesetzt, anschließend herrscht Ruhe.«
»Fragt sich, wer da ein Feindbild hat«, murmelte sie.
»Otto Normalbürger erträgt halt die Vorstellung nicht, dass gewisse Dinge nicht erklärt werden können. Egal, wer der Typ war, er war krank. Diese Neonazi-Geschichte ist doch bloß eine Schublade, in der das Amokgespenst für alle Zeit eingeschlossen wird.«
»In den italienischen Nachrichten steht davon nichts. Dort heißt es, man hätte noch keinerlei Anhaltspunkte zu Täter und Motiv.«
»Korrekt.«
»Und was sagen die deutschen?«
»Von den Neckar-Nachrichten abgesehen, das Gleiche. Allerdings auf Deutsch.«
Kurze Pause. »Toll«, sagte sie dann, mit einem Maß an Verachtung in ihrer Stimme, wie ich es noch nie erlebt hatte. »Du bist wirklich ein toller Hecht, Max Koller. Witzchen im Angesicht der Katastrophe. Warum hast du nicht auf der Titanic angeheuert?«
Dann hörte ich nichts mehr. Nur noch transalpines Rauschen und schließlich, wie eine Erlösung, das Besetztzeichen. Ich legte auf.
Es wurde also doch ein Scheißtag. Ich schrieb den Neckar-Nachrichten einen Leserbrief, in dem ich die Errichtung einer Bürgerwehr verlangte, dazu die Ausweisung aller Rothaarigen, und zeichnete mit dem Namen unseres Oberbürgermeisters. Dann räumte ich die Einkäufe in Kühlschrank und Regale, doch der Appetit war mir vergangen. Ich köpfte eine Bierflasche und fläzte mich vor den Fernseher. Es war kurz nach elf. Ich fand einen Sportsender, der sich nicht entblödete, ein Sommerskispringen im Schwarzwald zu wiederholen. Skispringen im September, genau das Richtige für heute. Nur in den Werbepausen schaltete ich um. Und während einer dieser Pausen war es, dass ich mitten in die Heidelberger Pressekonferenz des Generalbundesanwalts platzte. Mir fiel fast das Bier aus der Hand, als der Sprecher dort den Bericht der Neckar-Nachrichten bestätigte.
»Am Abend des Anschlags«, las der Mann mit verkniffenem Gesicht von einem Blatt Papier ab, »erhielt die Polizeidirektion Heidelberg ein Schreiben, in dem sich eine bislang unbekannte nationalradikale Vereinigung zu der Tat bekennt. Das Schreiben wird derzeit noch auf Echtheit geprüft. Weitere Einzelheiten können an dieser Stelle aus ermittlungstaktischen Gründen nicht bekannt gegeben werden. Vielen Dank.«
Das wars. Der Verkniffene ging, Kamerablitze zuckten, ich saß mit offenem Mund da. Was wurde denn hier gespielt? Hielten die uns alle zum Narren? Nein, es war Ernst, in der ARD brachten sie es, im ZDF, es wurde wild spekuliert und fantasiert, aber um eines kam man nicht herum: um die Existenz eines Bekennerbriefs.
Ich schlug die Neckar-Nachrichten auf und sog jedes Wort des Hauptartikels auf. Auch dort mussten sich die Schreiber mit zahlreichen Vielleichts und Angeblichs über Wasser halten, man wusste nicht viel, und das Wenige war verdammt dünn.
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