Altstadtfest
schnappte mir die Zeitschrift und folgte ihm.
»Wie wärs mit zahlen?«, rief Usedom neben mir.
»Später.«
Gleis 7. Der ICE nach München wartete abfahrbereit. Gegenüber war ein weiterer nach Dortmund angekündigt. Auf dem Bahnsteig heillose Aufregung. Die Türen des Zugs standen sperrangelweit offen, Reisende hingen darin, klebten hinter den Scheiben, glotzten sich die Augen aus dem Kopf. Das Objekt ihrer Neugier: Kommissar Sorgwitz. Fischers Kampfhund kniete vor dem Treppenaufgang, das Gesicht rot vor Anstrengung, konzentriert bis in die Igelhaarspitzen. Unter ihm lag einer platt auf dem Bauch, Sorgwitzens Dienstwaffe im Genick.
Wir stoppten, unfreiwillig. Auf der Treppe hatte sich ein Stau gebildet, den niemand aufzulösen vermochte, auch Kollege Greiner nicht. Der Rottweiler ruderte mit den Armen, dirigierte, drohte, flehte, schüchterte ein – vergebens. Der raunende Menschenklumpen wurde einmal durchgewalkt, um den Durchgang am Ende genauso zu verstopfen wie vorher.
»Greiner?«, brüllte Kommissar Fischer von oben. »Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung, Chef! Wir haben ihn!«
»Sind Sie sicher, dass es der richtige Mann ist?«
»Was?«
»Ob Sie sicher sind, dass Sie den Richtigen erwischt haben!«
Greiner nickte und hob den Daumen. Hinter ihm schaute Kommissar Sorgwitz kurz auf und rief: »Hier, Chef! Das hat ihn verraten.« Mit der Linken riss er seinem Opfer die Perücke vom Kopf und schwang sie wie einen Skalp.
Fischer warf mir einen alarmierten Blick zu. Langsam schüttelte ich den Kopf. Er schloss die Augen.
»Was ist?«, rief der Rottweiler.
»Er hatte einen falschen Bart«, antwortete ich. »Kein Toupet.«
Selbst auf die Entfernung sah ich, wie Greiners Kinnlade einen Zentimeter nach unten glitt. Der Kampfhund hielt noch immer die Perücke in die Höhe. Erst als ihm sein Kollege etwas zuflüsterte, ließ er sie fallen. Mit der frei gewordenen Hand begann er, am Bart des Mannes zu zupfen. An der Backe, am Hals, am Kinn, überall. Der Mann jaulte jämmerlich.
»Lassen Sie uns durch«, sagte Kommissar Fischer heiser und drängte sich durch die Gaffer. Die machten nun bereitwillig Platz, vor allem die Bartträger. In kürzester Zeit hatten wir den Bahnsteig erreicht.
»Das ist jetzt komisch«, stotterte Kommissar Greiner. »Weil … Als der Kerl uns sah, machte er sofort die Fliege.«
»Er wird was geahnt haben«, sagte ich.
Der Kampfhund malträtierte den Mann zwar nicht mehr, hielt ihn aber nach wie vor mit seiner Waffe in Schach. Wenn seine Halsschlagader jetzt nicht platzte, würde sie es nie tun. Seine Gesichtsfarbe spielte ins Violette. Der Glatzkopf wimmerte.
»Ist das von Kant?«, fragte Fischer, nur der Form halber.
Usedom und ich verneinten synchron. Der Mann, den Sorgwitz erlegt hatte, war groß, aber nicht schlank. Eher ein wenig feist. Er trug einen hellen Mantel und ein Toupet, sein Bart war echt. Von Kant dagegen hatte noch den Großteil seiner Haare gehabt. Und gewimmert hätte er auch nicht.
»Stehen Sie auf, Sorgwitz!«, sagte Fischer und grapschte nach seinen Zigarillos.
Der Kampfhund rührte sich nicht. Er sah auf sein Opfer nieder, auf dessen schweißglänzenden Hinterkopf, auf die Pistole in seiner Hand. Erst nach quälend langen Sekunden nahm er die Waffe beiseite und steckte sie ein. Steifbeinig erhob er sich. In seinem Gesicht zuckte es.
»Feuer!«, brummte Fischer. Das Wort war kaum ausgesprochen, als ihm der Rottweiler schon sein Feuerzeug unter den Zigarillo hielt. Der ganze Bahnsteig sah dem Kommissar zu, wie er mit geschlossenen Augen inhalierte, den Stumpen aus dem Mund nahm und ausatmete. Eine würzige Wolke umhüllte das orangefarbene Rauchverbotsschild. »Sie«, sagte Fischer zu Greiner, »sorgen dafür, dass diese Leute verschwinden. Sie, Sorgwitz, helfen dem Mann auf und entschuldigen sich bei ihm. Und Sie«, er senkte die Stimme, während er sich Usedom und mir zuwandte, »erklären mir bitte, wie ich die Jahre bis zu meiner Pensionierung überstehen soll.«
»Mit Humor«, antwortete der Schriftsteller.
»Sie gehen einfach nicht in Pension«, sagte ich.
Fischer schüttelte den Kopf und tastete seinen Bauch ab. Schweigend sah er seinen Untergebenen zu, wie sie ihren Pflichten nachkamen. Während der Zug nach München den Bahnhof verließ, schaffte es Greiner tatsächlich mit sanfter Gewalt, einen Großteil der Neugierigen zu verjagen. Sorgwitz, dem der Schweiß in Strömen vom Gesicht rann, streckte seinem Opfer die Hand hin, um ihm
Weitere Kostenlose Bücher