Am Anfang war das Wort
erschütterndes Manifest der Existenz der hebräischen Sprache in sowjetischen Straflagern herausgegeben hatte. Das Thema der Arbeit, fiel Ruchama zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich ein, stand in Zusammenhang mit Idos Doktorarbeit, die sich mit hebräischer Lyrik in sowjetischen Straflagern befaßte.
Dann führte er mit zitternder Stimme aus, daß es drei Ebenen der literarischen Kritik gebe. »Die erste ist rein poetologisch«, sagte er, fuhr sich über die Stirn und betrachtete die Zuhörer mit ausdruckslosen Augen. »Dies ist die objektive Ebene, derer sich die Forschung bedient.« Erneut schweiften Ruchamas Gedanken ab, und als sie wieder zuhörte, fing sie folgende Worte auf: »Der subjektivste Gegenpol ist der wertende und urteilende Standpunkt. Das Gedicht, das ich vorgetragen habe, steht in der Tradition der Allusion, das heißt, es bezieht sich auf einen früheren Text, in diesem Fall auf einen klassischen, und man kann unmöglich übersehen, daß es den Rahmen des Banalen und Erwarteten in seiner vagen Darstellung Heraklits nicht sprengt.« Ido machte eine Pause und holte Luft. Dann fuhr er fort: »Schönheit, die sich leicht erkennen läßt, ist keine Schönheit.«
Im Publikum entstand Bewegung. Ruchama sah, daß Schulamit Zelermaier ihr halbes ironisches Lächeln aufsetzte, während sie mit einer Hand ständig die braunen Holzperlen befingerte, die sie um ihren dicken Hals trug. Die Studentin neben Ruchama hatte aufgehört mitzuschreiben.
»Das Gedicht schmeichelt durch Mittel des Kitsches«, fuhr Ido rasch fort. »Und in diesem Fall liegt der Kitsch hauptsächlich in der Adaption einzelner Elemente aus der symbolistischen Lyrik und der plastischen Kunst, die damit verbunden ist – der art nouveau, mit anderen Worten, der Kitsch liegt in der anachronistischen Poesie. Es ist kein symbolistisches Gedicht, sondern eine Konstruktion, die sich äußerer Elemente einer früheren Epoche bedient und mit den regressiven Neigungen des Lesers spekuliert.«
»Bravo!« rief Schulamit Zelermaier, und das akademische Publikum begann zu raunen. Das Flüstern wurde lauter. Alle wußten, wie sehr Tirosch von den Gedichten eingenommen war, die auf irgendeine Art ihren Weg zu ihm gefunden hatten und die er herausgegeben hatte. Dawidow murmelte dem Fotografen etwas zu, und dieser richtete seinen Apparat auf die Gesichter der anderen Teilnehmer: auf die gesenkten Augen Tuwjas, die Überraschung und das ärgerliche Zucken in seinem Gesicht, das sofort wieder verschwand, auf das Gesicht Tiroschs. Ruchama drehte den Kopf und sah deutlich die Sensationslust in Aharonowitschs Augen aufblitzen, das erschrockene Lächeln auf dem Gesicht Zipis, der Assistentin, und den Ausdruck ruhiger Überraschung auf dem Gesicht Sarah Amirs. Die junge Studentin zu ihrer Linken machte sich weiter Notizen. Und dann fuhr Ido fort: »Zugunsten des Gedichts spricht die Tatsache, daß es in einem Arbeitslager geschrieben wurde, daß es von einem Menschen stammt, der keinen Zugang zur europäischen Kultur der letzten zwanzig Jahre hatte, der die hebräische Sprache in der Sowjetunion hinter Stacheldraht gelernt hat, und darin liegt seine Größe – in den Bedingungen, unter denen es geschrieben wurde, der Zeit, in der es entstanden ist, und so fort. Wäre das Gedicht hier geschrieben worden, bei uns, in den sechziger Jahren, hätte es dann irgend jemand für ein gutes Gedicht gehalten?«
Die schreibende Hand links von Ruchama hielt einen Moment inne. Ruchama warf einen kurzen Blick nach hinten, dann betrachtete sie das blasse Gedicht Ido Duda'is, der jetzt das eckige Brillengestell mit den dicken Gläsern abnahm, es vorsichtig auf die grüne Decke legte und sagte: »Es versteht sich von selbst, daß ich voll und ganz der Argumentation Dr. Schajs zustimme: Dies ist eine subjektive Angelegenheit, die von den Umständen und dem Kontext abhängt, eine Sache der Wertschätzung, des Geschmacks, des Geruchs und allem, was damit zusammenhängt.« Dann setzte er seine Brille wieder auf und las Tiroschs jüngstes politisches Gedicht, das in einer Literaturbeilage im Anschluß an den Libanonkrieg veröffentlicht worden war. Es war sogar vertont worden, ein Lied mit einem traurigen Refrain, das sich in die Reihe jener bekannten Lieder einfügte, die an Gedenktagen gesungen werden. Ido las Uns ist es gleich mit trockener, monotoner Stimme.
Ruchama gelang es nicht, sich auf die geschwollenen Sätze zu konzentrieren, mit denen Ido die zum Verständnis des
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