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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Orth
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März 2004
Herrsching am Ammersee

    Mein Opa starb 24 Jahre vor meiner Geburt. Persönlich begegnet bin ich ihm nur ein Mal, kurz nach dem Tod meiner Oma. Sie sollte zu ihm in sein Grab auf dem Herrschinger Friedhof gelegt werden. Doch als das Grab geöffnet wurde, fand der Totengräber weder Sargspuren noch Knochenreste: Opas sterbliche Überreste hatten seit Jahrzehnten in einer Urne gelegen, die in dem kastanienbraunen Renaissanceschrank in seinem früheren Arbeitszimmer neben Tagebüchern und Fotoalben stand, im ersten Stock der Alten Mühle am See. Umgeben von riesigen Bücherregalen und einem Werkzeugtisch.
    »Roderich Fick – 16. August
1886 – 13. Juli 1955« stand auf dem schwarzen vasenartigen Gefäß, das meine Mutter 49 Jahre nach dem Tod ihres Vaters aus dem Schrank holte. Als sie die Urne bewegte, schien darin nicht nur sandweiche Asche zu sein, sondern auch etwas Festes, Größeres.
Plock
. Ein unangenehmes Scheppern war zu hören, wenn der Gegenstand gegen die Metallwand schlug, so wie der Klang einer großen Münze, die in eine Spendenbox aus Blech fällt. Außen klebten noch Erdreste. Jemand musste die Urne ausgegraben haben, damit Opa seine letzte Ruhe in seinem Lieblingsschrank finden konnte. Legal war das nicht, in Deutschland herrscht Friedhofszwang. »Das kommt gar nicht so selten vor«, versicherte der freundliche Pfarrer, den meine Mutter später verlegen fragte, ob es möglich sei, eine fast 50 Jahre alte Urne ein zweites Mal zu begraben.
    Plock.
Das einzige Geräusch, das ich je von meinem Opa gehört habe. Ich weiß nicht, wie seine Stimme geklungen hat. Wie er sich bewegte. Wie er gerochen hat.
    Mein anderer Opa starb, als ich zwei war. Beim Abtrocknen in der Küche kippte er plötzlich um, Herzversagen. Ich erinnere mich an genau zwei Erlebnisse mit ihm: wie er mich in einer Schubkarre durch den Garten fährt und wie er im Familienurlaub auf Texel immer wieder versucht, mich davon abzuhalten, den halben Sandstrand zu verspeisen. Genau genommen erinnere ich mich nicht wirklich, es wurde mir nur so oft davon erzählt, dass es mir wie eine eigene Erinnerung vorkommt.
    Ich weiß also nicht, wie das ist, einen Großvater zu haben.
    Klar, ich kenne Fotos von Roderich. Spitze Nase, scharfer Greifvogelblick. Auffällig ist, dass er auf Bildern fast nie lächelte. War er ein sympathischer Mensch? Seine Totenmaske aus Gips lag immer im Studierzimmer neben einer roten Kerze, die Tag und Nacht brannte, die geschlossenen Lider zur bröckelnden Decke gerichtet. Vorstehende Wangenknochen, sauber über dem linken Ohr gescheitelte Haare, schmale Lippen. Neben der Maske Abdrücke seiner Hände mit sehr feinen, langen Fingern, die Mittelhandknochen zeichneten sich deutlich ab, die Daumen im gleichen Winkel nach hinten gebogen wie meine. Mehr Künstler- als Handwerkerhände.
    Und natürlich kannte ich die »Grönland-Diele« im Untergeschoss. Vom Garten her roch es hier immer nach einer Mischung aus nassem Holz und frischem Laub, an der Wand standen riesige Planschränke mit handgeschriebenen Etiketten. »Ernst-Sachs-Bad Schweinfurt«, »Wettbewerb Deutsches Museum Bibliothek«, »Donaubrücke Regensburg«. Darüber hingen Kajakpaddel, Inuitwaffen und Speere mit Karabinerhaken aus Walrosselfenbein, Prachtstücke für jedes Völkerkundemuseum. Außerdem ein einzelner Kinderschuh aus Seehundleder, seltsam plattfüßig geformt. Wenn ich als Achtjähriger daran vorbeilief, auf dem Weg in den Garten zum Fußballspielen, fragte ich mich jedes Mal, was das für Füße sein müssen, die in solche Schuhe passen.
    Ich habe mich nie sonderlich für den Mann interessiert, dem all diese Dinge einmal gehört haben. Ahnenforschung beschäftigt die Menschen normalerweise in einem Alter, in dem sie selbst schon kurz davor sind, nur noch als Name und Datum in irgendwelchen Stammbäumen zu existieren.
    Ahnenforschung hat nichts mit der Welt der Lebenden zu tun, dachte ich immer, sondern mit Archiven, Listen, unleserlichen Briefen und Staub.
    Und mit Geschichtshalden wie dem alten Renaissanceschrank in der Mühle in Herrsching. Fein geschnitzte Holzvertäfelungen; ein massiver Eisenschlüssel, so schwer wie ein Briefbeschwerer; breite Türen, die beim Öffnen ächzen, als würden sie nur widerwillig die verborgenen Geheimnisse der Innenfächer preisgeben.In jeder Familie gibt es einen vergleichbaren Ort. Ein paar Regalfächer auf dem Speicher oder eine verstaubte Kommode, in der Erinnerungen aufbewahrt werden: Tagebücher,

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