Am Anfang war die Mail
Mittvierzigerin hob abfällig ihren Arm und rannte weiter die Stufen herab. »Du hast gut reden um diese Zeit.«
Marco lachte ihr nach. »Ich leg mich dann jetzt mal ins Bett, Frau Seiffert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Arbeitstag.«
»Frecher Bengel.« Ruth Seiffert schüttelte grinsend ihren Kopf und verließ das Appartementhaus.
Marco genoss die neidischen Blicke seiner Nachbarn, wenn er morgens von der Arbeit nach Hause kam. Vergessen waren für einen Augenblick die Leiden, die er ertragen musste, wenn er sich abends zum Dienst schleppte, während seine Kumpels nach dem vierten Kölsch erst richtig auf Touren kamen.
In seiner Wohnung im fünften Stock schleuderte er den Rucksack neben den Schreibtisch und warf einen Blick auf die Straße.
»Viel Spaß, ihr armen Schweine da unten«, rief er durchs geschlossene Fenster und deutete hinter sich Richtung Schlafzimmer. »Das hier nenn ich ausgleichende Gerechtigkeit.«
Er drückte den Fernseher an und setzte sich einen Kaffee auf. Entgegen seinem vorlauten Geplapper konnte er sich nach Feierabend nie direkt ins Bett legen. Mindestens eine Stunde brauchte er, um herunterzukommen. Kaffee war für diesen Zweck ein perfekter Begleiter. Gähnend stellte er die Pulverdose in den Schrank zurück und warf die Tür zu. In diesem Moment krachte der Hängeschrank auf den Boden und sämtliche Tassen und Teller krachten vor Marcos Füße. In der Wand, an der zuvor noch ein Küchenschrank hing, klaffte ein zwei Meter langer Riss. Marco wich einen Schritt nach hinten, verlor den Halt und fiel rücklings gegen den Küchentisch. Der Boden unter ihm schwankte bedrohlich. »Was zum Henker ...?«
Er robbte zum Fenster und zog sich an der Fensterbank nach oben. Ein ohrenbetäubendes Donnern hallte durch Marcos Wohnung, und die restlichen Schränke fielen in sich zusammen. Der Weg aus der Küche war versperrt. Ängstlich drehte er sich um und starrte aus dem Fenster. Alles ruckelte und bebte und ehe er sich versah, kam die Straße, auf die er schaute, sekundenschnell auf ihn zu. Verschlungen zwischen Staub und Schutt stürzte Marco mitsamt dem gesamten Haus in die Tiefe.
Köln | U-Bahn Baustelle | 10. Februar 2008 | 7.15 Uhr
Jürgen Koch hielt seinen Helm am Kopf fest und bückte sich durch die Öffnung hindurch in den neuen Seitenschacht der U-Bahn-Baustelle. »Moin, Jungs! Alles klar bei euch?«
»Moin, Chef«, antworteten ihm die drei Arbeiter einhellig, während sie weiterhin einen Haufen Schutt in eine Schubkarre schaufelten.
»Wie sieht’s aus, Leute? Bekommt ihr das Ding heute noch freigeräumt?«
Einer der Arbeiter stellte die Schaufel ab und kratzte sich an der Seite. »Ich weiß ja auch nicht, Chef, aber das Zeug rutscht ständig nach und mit dem Bagger kommen wir hier noch nicht hinein. Vollkommen instabil die verdammte Kacke. Möglicherweise sollten wir noch einmal mit den Statikern sprechen?«
Jürgen leuchtete mit seiner Taschenlampe die Wände ab. »Hm, sieht eigentlich alles normal aus, wenn ihr mich fragt.«
»Dann schauen Sie sich mal die Scheiße vorne beim Winnie an. Da sind die Stützen bereits abgesackt.«
»Ihr macht Witze.« Jürgen stakste über Werkzeug hinweg und begab sich zu seinem zweiten Trupp im hinteren Bereich des Tunnels. »He, Winnie«, rief er in den Schacht hinein. »Ich hab gehört, bei euch gibt’s Probleme.«
Er erhielt keine Antwort. Verunsichert strahlte Jürgen jeden Zentimeter des Bauabschnitts ab, da ertönten aus dem Dunkeln schnelle Schritte. Er hielt die Lampe nach vorne und sah drei Schatten auf sich zulaufen. Ohne ihren Chef anzuschauen, stürmten die Männer an ihm vorbei. Erst im letzten Moment konnte Jürgen einen der Arbeiter am Arm packen. »He, Winnie, was ist denn hier los?«
Dieser riss sich von seinem Boss los und folgte seinen enteilten Kollegen. »Raus hier, Chef! Raus!«
Jürgen leuchtete irritiert in die Richtung, aus der die Arbeiter geflüchtet kamen. Das Letzte, was seine Lampe erfasste, war eine gewaltige Feuerwalze, die über Jürgen und seine Männer hinwegfegte.
Nahe Köln | 13. Februar 2008 | 7.28 Uhr
Das warnende Piepsen der Pulsuhr durchdrang die behagliche Ruhe des Waldes. Keuchend hetzte Patrick Gerdes über den in der Morgensonne dampfenden Waldboden. Mit seinen kräftigen Schritten verscheuchte er eine Horde Spatzen, die aufgeregt aus dem Dickicht schossen. Patrick nickte zufrieden. Er wollte, dass sein Puls derart in die Höhe schnellte. Er wollte seinen Körper spüren. Ständig
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