Am Anfang war die Mail
musste er an den Anruf vor drei Tagen denken.
»Wir haben Ihren Sohn«, hatten sie ihm am Telefon mitgeteilt. »Ihm geschieht nichts, wenn Sie uns die Skripte übergeben.«
»Auf was warten wir noch«, hatte er Vicky angeschrien. »Das Leben unseres Sohnes steht auf dem Spiel.«
»Das verstehst du nicht«, versuchte Vicky, ihn zu beruhigen. »Diese Gemeinschaft ist eine Horde Wahnsinniger! Wir können die Unterlagen nicht einfach so hergeben. Das bin ich meinem Vater schuldig. Außerdem hab ich sie nicht mal eben in meinem Nachttisch. So leicht geht das nicht. Mach dir keine Sorgen, wir bekommen unseren Nathan schon zurück. Das verspreche ich dir. Wir müssen uns nur ein paar Tage gedulden. Mir fällt schon etwas ein.«
Patrick hüpfte elegant über eine Pfütze. So oft es sein Terminkalender in der Steuerkanzlei zuließ, absolvierte er morgens diese Joggingstrecke. Kurze, steile Anstiege, die gleich darauf wieder rasant abfielen und holprige, von spitzen Steinen gespickte Pfade sowie zugewachsene Feldwege verlangten seinem bulligen Körper das Äußerste ab.
Adrenalin jagte ihm durch den Leib. Seine Muskeln waren zum Bersten angespannt. Nur ein unachtsamer Fehltritt auf dieser morschen Brücke, und er musste den Heimweg mit gebrochenem Knöchel antreten. Doch genau einen solchen Kick brauchte er an diesem Morgen. Das Laufen half ihm, endlich einen klaren Gedanken zu fassen.
»Wir müssen uns gedulden. Wir müssen uns gedulden.« Wütend wiederholte er Vickys Worte und ballte seine Hände zu Fäusten. Zwar war ihm ihre Vergangenheit seit Langem bekannt, sie hatte ihm kurz nach ihrem Kennenlernen davon berichtet, doch waren ihm die Ausmaße nie so bewusst, wie in den letzten Tagen. Niemals hätte er geglaubt, dass diese Dokumente eine solche Brisanz für jemanden besaßen. Als Atheist waren ihm derlei Dinge egal. Zweitausend Jahre alte Aufzeichnungen irgendeines Propheten, damit konnte er nichts anfangen. Doch seit Jahrhunderten bestimmten die Papiere das Leben von Vickys Familie. Stets darauf bedacht, deren Existenz vor einer skrupellosen Gemeinschaft zu verheimlichen.
Er liebte Vicky, also unterstützte er sie.
Allen Anstrengungen zum Trotz wurde vor wenigen Wochen ein Beweis ans Licht getragen. Zwar durch Zufall, aber was half das schon? Ein Beweis, der fast jeden der ihn kannte, in den Wahnsinn trieb. Erst recht hier in Köln. Deutete die Prophezeiung doch auf eine Vernichtung der Stadt hin. Wenn? … Ja, wenn? … Dafür wollte die Gemeinschaft das Buch, hatte Vicky ihm erklärt.
Als er heute Morgen dann seine Joggingschuhe aus der Ecke hervorgeholt hatte, protestierte sie lautstark.
»Ich muss das tun«, hatte er sich gewehrt. »Ich muss endlich einen klaren Gedanken fassen, und das kann ich nur im Wald. Nachher im Büro muss ich wieder so tun, als wäre nichts passiert. Ich habe ein ungutes Gefühl. Irgendwas scheint dort nicht zu stimmen. Ich hoffe, dir fällt eine Lösung ein, sonst werde ich bald die Polizei benachrichtigen. Etwas, was wir schon viel früher hätten tun sollen.«
Ein flüchtiger Kontrollblick auf sein Handgelenk verriet Patrick, dass er seinen Schritt etwas verlangsamen sollte. Sein Puls explodierte regelrecht. Ein beiläufiger Blick, der ihn die wachsame Sicht nach vorne, für einen Moment vergessen ließ. Ein Blick, der ihn nicht bemerken ließ, dass sich im Gebüsch vor ihm ein Schatten auftat. Ein Blick, der ihm aus dem Augenwinkel heraus noch schemenhaft ein vertrautes Gesicht erkennen ließ.
Ein Blick, der sein Letzter war.
KAPITEL 1
»Schreib das, was du siehst in ein Buch,
und schick es an die sieben Gemeinden«
Offenbarung 1,11
Nahe Konstantinopel | 16. April 1204
Am Horizont stiegen seit Tagen dunkle Rauchschwaden über der Stadt auf. Je nach Windrichtung trieben sie Arusch den Duft von verbranntem Holz oder Fleisch in die Nase. Wenn er nicht gewusst hätte, um welche Art von Fleisch es sich handelte, er hätte sogar etwas Appetit bekommen. Doch so verspürte er einfach nur Ekel.
Was er in den letzten Tagen beobachtet hatte, ließ ihn zweifeln, ob auch nur ein Funken Güte in diesen Rittern steckte. Viele hatten ihm abgeraten, nach Konstantinopel zu reisen.
»Dort tut sich nichts Gutes«, hatten sie ihm gesagt. »Bleib dieser Stadt fern!«
Doch er konnte nicht anders, er hatte es seinem Vater versprochen. Seit vier Tagen befand er sich nun auf dieser Anhöhe, die ihm als Versteck diente. Sie lag unmittelbar vor der belagerten Stadt, abseits der
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