Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
vielleicht einen Grizzly sehen. Und Elche.
Ich werde das von jetzt an auf jeden Wunschzettel schreiben. An Weihnachten, an Ostern und an meinem Geburtstag. Ich werde nichts anderes darauf schreiben als: Ferien in Kanada mit Papa ganz alleine.
Irgendwann erfüllt er mir dann meinen Wunsch.
In diesen Osterferien werde ich jedenfalls wieder in Stanbury sein. Ich hasse es.
Ich hasse J.
Ich hasse mein Leben.
3
Am ersten Abend auf Stanbury aßen sie immer Spaghetti. Das war Tradition seit vielen Jahren, und an Traditionen wurde eisern festgehalten. Es war üblich, daß die drei Frauen gemeinsam die Nudeln kochten und daß dann nachher alle zusammen im Eßzimmer
aßen und zwei Flaschen Champagner dazu tranken. Am zweiten Abend kochten die Männer, dann wieder die Frauen, und immer so fort. Nur gelegentlich besuchten sie zwischendurch ein Pub.
Jessica war erstaunt, daß sie niemanden in der Küche antraf, als sie hinunterkam. Nach der Ankunft hatte sich jeder in sein Zimmer verzogen, um die Koffer auszupacken, aber sie hatten vereinbart, um sieben Uhr mit dem Kochen zu beginnen. Nun war es Viertel nach sieben.
Egal, dachte Jessica, dann fange ich eben alleine an.
Sie vergewisserte sich, daß der Champagner kalt gestellt war, und ließ dann Wasser in einen großen Topf laufen. Durch das Fenster konnte sie in den Park hinaussehen, auf den eine sanfte, goldfarbene Abendsonne schien. Gleich nach der Landung auf dem Leeds Bradford International Airport am Mittag hatten sie festgestellt, daß es ungewöhnlich warm war für April. Sie hatten ihre beiden Leihautos in Empfang genommen, und auf der Fahrt von Yeadon nach Stanbury hatten sich alle aus ihren Jacken und Mänteln geschält. Überall blühten wilde Narzissen, und einige Bäume trugen bereits helles, frisches Grün.
Jessica sah Leon und Tim nebeneinander über den Rasen gehen; sie schienen in ein sehr ernstes Gespräch vertieft zu sein, denn beide runzelten die Stirn und blickten alles andere als glücklich drein.
Leon war Patricias Mann, und seine Freunde taten meist so, als sei er der Besitzer von Stanbury, obwohl es Patricia war, die das Anwesen geerbt hatte. Leon hatte im Grunde nicht das geringste zu sagen, und wenn man mit ihm etwas, das das Haus betraf, besprach, wußte man, daß er anschließend zu Patricia ging und ihre Anweisungen einholte.
Jessica schüttete Salz in das Wasser, stellte den Topf auf den Herd und zündete die Gasflamme an. Es waren ihre zweiten Osterferien in Stanbury, ihr sechster Aufenthalt insgesamt, denn sie waren dazwischen an Pfingsten, im Sommer, im Herbst und
an Weihnachten hier gewesen. Die Handgriffe in der Küche waren ihr mittlerweile vertraut, und überhaupt hatte sie zweifellos Zuneigung zu dem Haus und zu der Landschaft gefaßt. Dennoch dachte sie manchmal, daß es schön sein könnte, mit Alexander, ihrem Mann, anderswo hinzufahren. Mit ihm allein.
Was ironischerweise ein Wunsch war, den sie mit Alexanders fünfzehnjähriger Tochter teilte, und es war mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit, die sie hatten. Jessica wußte, daß Ricarda sie abgrundtief haßte. Vorhin, im Schlafzimmer, als sie und Alexander ihre Koffer auspackten, hatte Alexander einen Zettel aus seiner Hosentasche gezogen und ihn Jessica gereicht.
»Hier. Lies mal. Ricardas Wunschzettel. Für Ostern.«
Es war ein gelochtes Blatt, lieblos aus einem Ringbuch herausgerissen. Ricarda hatte sich zudem keineswegs Mühe gegeben, einigermaßen schön und deutlich zu schreiben.
Mein Wunschzettel stand ganz oben gekritzelt, und darunter in riesigen, tief eingedrückten Buchstaben: Ferienreise mit Papa nach Kanada alleine. Das Wort alleine war dreimal dick unterstrichen.
»Und wenn du wirklich einmal mit ihr alleine verreist?« hatte Jessica gefragt und ihm den Zettel zurückgegeben. »Vielleicht würde es euch guttun. Sie verkraftet doch ganz offensichtlich deine Scheidung von Elena nicht. Und schon überhaupt nicht den Umstand, daß du erneut geheiratet hast. Vielleicht solltest du ihr das Gefühl geben, daß ein Teil deines Herzens immer noch ihr, und nur ihr alleine, gehört.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Ich will nicht wochenlang ohne dich sein.«
»Ich würde es verstehen. Und vielleicht würde es uns alle weiterbringen. «
»Da müßte sie sich erst anders benehmen. So wie sie sich dir gegenüber verhält, verdient sie einfach keine Belohnung. Wenn ich ihr jetzt diesen Wunsch erfülle, glaubt sie, sie kann sich alles erlauben. Ich kenne meine
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