Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nicht aushalten konnte. Jessica mißtraute diesem Ausmaß an Perfektion zutiefst, außerdem fand sie Patricias ständiges Geprahle mit ihren Kindern taktlos Evelin gegenüber, angesichts des Traumas, das diese erlitten hatte. Jessica hatte zunächst nicht verstanden, weshalb sich Evelin trotzdem so eng an Patricia anschloß, vermutete aber inzwischen, daß sie sich in Momenten des Zusammenseins mit der Freundin zu identifizieren suchte. Patricia schien für sie ein Vorbild, ein Ideal zu sein. Daher versuchte sie sich auch in all den Sportarten, die Patricia ausübte. Nur daß Patricia darin glänzte, während sich Evelin wie ein Tolpatsch benahm. Jessica betrachtete sie, wie sie da in ihrem figurumspielenden Sackkleid auf dem Küchenstuhl saß, so dick und so schwerfällig, und sie dachte: Sie ist die Unglücklichste von allen hier. Sie hat so traurige Augen, und niemand scheint jemals wirklich mit ihr zu sprechen.
Einem spontanen Gefühl folgend, wollte sie zu ihr gehen, sich neben sie setzen, ihr den Arm um die Schultern legen und sie fragen, was sie so sehr bedrückte, aber gerade in diesem Moment wurde die Küchentür aufgerissen, und Patricia kam herein. Und wie immer, wenn sie sich in einem Raum befand, schien sie ihn sofort zu besetzen und völlig auszufüllen - trotz ihrer Größe von knapp einem Meter sechzig und ihrer zerbrechlichen, kindlichen Figur. Ganz gleich, was sie tat, sie war stets ungemein intensiv, und es gab viele Menschen, die sie als ungeheuer erschöpfend empfanden.
»Ich bin zu spät«, sagte sie, »tut mir leid.« Ihre langen, blonden Haare leuchteten im Licht der einfallenden Abendsonne. Sie trug einen eng anliegenden, flaschengrünen Hausanzug, der sich perfekt eignete, darin zu kochen, der aber zugleich elegant genug war, um sie später beim Essen ebenfalls eine gute Figur abgeben zu lassen. Es handelte sich um eines jener Kleidungsstücke, bei denen sich Jessica oft fragte, wie es manchen Frauen gelang, sie aufzutreiben.
Patricia schwang sich auf den Küchentisch. Es war typisch für sie; nie würde sie sich, wie Evelin, einfach auf einen Stuhl plumpsen lassen. Immer lag eine besondere Energie, eine besondere Beweglichkeit in allem, was sie tat.
»Ich habe eben noch mit Mrs. Collins telefoniert. Sie ist wirklich die unfähigste Person, die ich je kennengelernt habe. Ich meine, wie kann sie einen wildfremden Mann hier im Haus umherstreifen lassen, nur weil er behauptet, er sei mit mir verwandt und müsse die Heizung reparieren? Sie hätte mich doch wenigstens anrufen und fragen müssen!«
Jessica seufzte leise. Patricia lamentierte seit Tagen über dieses Thema. Unmittelbar nach dem Ereignis, nachdem sie also mit Mrs. Collins gesprochen und von dem fremden Mann erfahren hatte, hatte sie bei den Freunden angerufen und ihnen alles erzählt. Auch auf dem Flug von München nach Leeds hatte sie ständig davon gesprochen. Sie regte sich entsetzlich auf, insbesondere auch darüber, daß ihr Mann die ganze Sache ziemlich gelassen nahm.
»Ich verstehe nicht, wie Leon so ruhig sein kann!« hatte sie im Flugzeug ständig wiederholt. »Dieser Typ kann doch gefährlich sein. Ein Krimineller, ein Triebtäter ... was weiß ich? Wir haben zwei kleine Töchter ... o Gott, ich werde während dieser Ferien keine ruhige Minute haben!«
Auch jetzt konnte sie sich noch nicht beruhigen.
»Mrs. Collins sagt, er habe vertrauenerweckend ausgesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie blöd ein Mensch sein kann. Als ob
man danach gehen könnte, wie jemand aussieht! Was glaubt die Alte? Daß Verbrecher eine schwarze Augenklappe tragen und einen Dreitagebart? Wenn ich nur wüßte, was der Typ hier wollte!«
»Jedenfalls hat er ja offenbar nichts geklaut«, sagte Evelin. Diese Feststellung traf sie heute zum fünften oder sechsten Mal; allerdings, dachte Jessica, wäre es wohl ein Fehler, daraus auf mangelnde Intelligenz zu schließen. In dem Thema um den geheimnisvollen Fremden wiederholten sich alle ständig, denn sämtliche Mutmaßungen waren inzwischen ausgeschöpft, und es machte längst keinen Sinn mehr, noch länger über all das zu reden. Es war jedoch klar, daß Patricia nicht so bald aufgeben würde.
»Er hat spioniert«, sagte sie, »das steht für mich fest. Vielleicht hat er versucht, einen Weg zu finden, wie er nachts in das Haus einsteigen kann. Oder er hat sich im Keller ein Fenster geöffnet, um später hineinkommen zu können.«
»Das ließe sich ja überprüfen«, meinte Jessica. »Was
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