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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Verschwinden Sachkors, den sie hatte heiraten wollen: er hatte sich in dünne Luft aufgelöst, dieser Sachkor, und keiner fand irgendeine Spur von ihm in der Stadt. Hresh hatte unter Zuhilfenahme seines Wundersteins entschieden, daß Sachkor noch am Leben sein müsse. Doch sogar Hresh hatte keine Ahnung, wo Sachkor sich befinden mochte. Dies war merkwürdig; doch der Grad, in dem sich Kreun in sich selber verschlossen hatte, erschien ihr sogar noch viel seltsamer. Kummer allein schien als Ursache dafür nicht zu genügen. Das Mädchen war völlig verändert seither, ein ganz anderer Mensch, sie war gereizt und redete nicht mehr und brütete nur vor sich hin. Hielt sich abseits. Weinte viel. Das alles dauerte schon viel zu lange. Torlyri beschloß, sie sich einmal beiseite zu nehmen, um ihr die Last auf ihrer Seele, was immer es sein mochte, ein wenig zu erleichtern.
    Aber nicht heute. Dieser Tag gehörte Hresh.
    Eine breite gewundene Steinrampe, wie sie die Architekten der Saphiräugigen so gern verwandten, führte zu Torlyris Tvinnr-Gemach hinab. Glühbeerenbüschel in Wandleuchtern verströmten ein bleiches orangerötliches Licht.
    Als sie die Rampe hinabzuschreiten begannen, sagte Hresh urplötzlich: »Ich habe über die Götter nachgedacht, Torlyri.«
    Das kam ihr überraschend. Er sollte in diesem Augenblick ans Tvinnrn denken, und nicht an sowas. Aber eigentlich überraschte sie ihre Überraschung gar nicht. Vieles von dem, was Hresh von sich gab, war überraschend. Und Hresh tat selten das, was irgendwer von ihm erwartete.
    »Hast du das?« fragte sie sanft.
    »Bei meinen Nachforschungen habe ich etwas gesehen«, sagte er. »Eine Maschine der Uralten, die mir Tiere zeigte, wie sie in der Zeit der Großen Welt gelebt haben. Manche waren den heutigen Tieren ziemlich ähnlich, aber trotzdem waren sie anders. Die Tiere, die durch die Zeiten hindurch aus der Großen Welt überlebten, haben auf deutlicher oder weniger deutliche Art viele Veränderungen erfahren.«
    »Ja, vielleicht ist es so«, sagte Torlyri und überlegte, wohin dieses Gespräch führen mochte.
    »Ich fragte mich also, welche der Götter derartige Veränderungen bewirkt«, fuhr Hresh fort. »Also, es ist Dawinno, der sie verwandelt hat. Er ist es doch, Torlyri, nicht wahr? Der im Ablauf der Jahre alle Wesen verwandelt? Dawinno schafft neue Formen aus den alten.«
    Torlyri blieb auf der Rampe stehen und blickte Hresh prüfend und verwundert an. Dieser kleine Junge, der heute zum Mann werden sollte – und dann schwirren ihm derartige Gedanken durch den Kopf… wahrlich, es gab keinen so wie Hresh und sicherlich hatte es auch nie zuvor einen wie ihn gegeben!
    »Dawinno nimmt das Alte weg, ja«, sagte Torlyri behutsam. »Er schafft Platz für das Neue.«
    »Nein, er bringt das Neue aus dem Alten hervor. «
    »Ist das deine Lesart der Sache, Hresh?«
    »Ja. Ja – Dawinno ist der Verwandler der Formen!«
    »Also gut«, sagte Torlyri, die immer weniger begriff.
    »Aber Verwandlung ist eben nichts weiter als Verwandlung«, sagte Hresh. »Es ist keine Schöpfung.«
    »Ja, vermutlich ist es so.«
    Seine Augen leuchteten nun beinahe fiebrig.
    »Aber wo beginnt dies alles? Bedenke doch nur, Torlyri, welche Götter wir verehren. Wir beten zum Ernährer und zum Tröstergott, zum Heilgott. Und zum Schützer und zum Zerstörer. Aber es gibt keinen Gott, den wir als den Erschaffenden – den Schöpfer bezeichnen würden. Wem also verdanken wir unser Leben, Torlyri? Wer hat die Welt gemacht? Ist es Yissou?«
    Seit Beginn des Gespräches hatte Torlyri sich unbehaglich gefühlt, doch jetzt steigerte sich dieses Gefühl rasch und in bedenklichem Maße.
    »Yissou ist der Beschützer«, sagte sie.
    »Eben. Aber nicht der Schöpfer. Wir wissen ganz einfach nicht, wer der Schöpfer ist. Wir denken sogar überhaupt nie daran. Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, Torlyri? Hast du?«
    »Ich vollziehe die Riten. Ich diene den Fünf Erhabenen.«
    »Und diese Fünf müssen einem Sechsten dienen! Aber wer ist er? Wieso haben wir für ihn keinen Namen? Warum gibt es keine Riten, ihn zu ehren? Er hat die Welt gemacht und alles, was in ihr ist. Dawinno verwandelt die Welt schließlich nur. Und wenn ich mir so die Beweise für seine Umgestaltung anschaue, beginne ich eben mich zu fragen, wie die Ur-Gestaltung war, verstehst du mich? Es gibt einen höheren Gott als Dawinno – und wir wissen gar nichts von ihm. Siehst du das ein, Torlyri? Begreifst du? Er entzieht sich uns,

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