Am Ende des Winters
Licht von Glühbeeren, dünn, jedoch ausreichend.
»Leg dich da nieder und bereite deine Stille vor«, befahl Torlyri. »Ich muß einige Gebete und Rituale machen.«
Sie trat von einer Nische zur anderen und rief nacheinander die Großen Fünf an. Die heiligen Amulette und Talismane in den Nischen waren alt und wohlvertraut, sie hatte sie aus dem Kokon mitgebracht, und sie waren ölig und glatt von dem langen Gebrauch. Es war sehr wichtig, für ein Erst-Tvinnr die Gunst der Götter zu erlangen: der Neophyt war dabei weit offen für die äußeren Kräfte und Mächte, und wenn die Götter nicht in ihn eingehen wollten, dann taten dies möglicherweise »andere« Kräfte. Zwar hatte Torlyri keine Ahnung, wer oder was diese Mächte sein mochten, doch sie gab sich große Mühe, ihnen keine Gelegenheit zu bieten.
So schritt sie also durch das Gemach, schlug die vorgeschriebenen Zeichen, murmelte die vorgeschriebenen Worte. Sie erbat von Yissou, er möge Hresh vor Schaden schützen, wenn seine Seele sich entblößte. Sie rief Mueri an, dem Jungen die Bedrückung zu nehmen, die seinen Geist zu trüben schien. Und sie betete zu Friit um die Heilung aller Narben, welche seine Verwirrung an ihm hinterlassen haben mochten. Und zu Emakkis flehte sie, er möge ihm Kraft und Ausdauer schenken. Vor der Altarnische Dawinnos blieb sie lange stehen, denn sie wußte, daß der Zerstörer der Gott war, dem Hresh sich ganz besonders ergeben hatte; und wenn denn Dawinno tatsächlich – wie Hresh behauptet hatte – der Große Verwandler und Umgestalter war, dann war es ja nur vernünftig, seine besondere wohlwollende Gnade auf die bevorstehende Verwandlung herabzuflehen.
Die Nischenschreine waren so angeordnet, daß jeweils zwischen ihnen eine blanke Facettenwand lag, so daß es insgesamt in dem zwölfflächigen Raum sechs davon gab. Aber da Torlyri für die sechste Nische nie Verwendung gefunden hatte, hatte sie sie leer gelassen. Jetzt jedoch, als sie ihren Umgang beendete, blieb sie davor stehen und rief zu ihrer eigenen Verblüffung eine Gottheit an, die sie nicht kannte, diese geheimnisvolle Nummer Sechs, von der Hresh noch vor kurzem gesprochen hatte.
»Wer immer du sein magst«, flüsterte sie, »das heißt, falls es dich überhaupt gibt, höre auf die Worte, die Torlyri spricht. Ich erflehe von dir, daß du achthabest und wachst über diesen absonderlichen Knaben, der dich liebt, daß du ihm Stärke schenkest und ihn bewahrst für all das, was ihm zu tun bestimmt ist auf dem Angesicht dieser deiner Welt. Das ist es, was Torlyri von dir wünscht, im Namen der Fünf, die dein sind. Amen.«
Und bestürzt über ihr Verhalten starrte sie in die schattendunkle Vertiefung der sechsten Nische.
Dann machte sie kehrt und kniete sich neben Hresh auf das Pelzlager. Er beobachtete sie mit großen aufmerksamen Augen.
»Hast du deine Ruhe hergestellt?« fragte sie.
»Ja, ich glaub schon.«
»Du bist nicht sicher?«
»Ich habe meine Stille erreicht, ja.«
Torlyri bezweifelte dies ziemlich stark. Die Traumverschwommenheit, die eigentlich in seinem Blick hätte liegen sollen, war nicht da. Wahrscheinlich hatte er sich nicht einmal in der Technik geübt, obwohl sie ihn darin unterrichtet und ihm aufgetragen hatte, Übungen zu machen. Aber möglicherweise war Hreshs Gehirn durchaus in der Lage, in einen Tvinnr-Zustand überzugehen, selbst wenn in ihm nicht vollkommene Stille herrschte. Man konnte eben nie etwas mit Gewißheit annehmen, wenn man es mit Hresh zu tun hatte.
Aus der Dawinno-Nische hatte sie einen heiligen Gegenstand genommen, einen glatten, weißen Stein, um dessen Leibung ein grobes grünes Fasergespinst geknüpft war. Dies drückte sie nun als Schutzzauber Hresh in die linke Hand und schloß ihm die Finger darüber. Der Stein würde ihm helfen, sich scharf zu konzentrieren. In der anderen Hand hielt er bereits das Amulett, das einstmals Thaggoran gehört hatte.
In feierlichem Ritualton sprach sie: »Dies bedeutet die äußerste Freude für uns vom Volk. Dies ist die Vereinigung der Seelen, die unsere Gabe und Besonderheit ist. Wir gehen in Demut und ehrfürchtiger Scheu in die Verschmelzung. Wir vollziehen das Tvinnr voll freudigen Entzückens.«
Torlyri fühlte, wie die Spannung in ihr anwuchs.
Wie oft hatte sie das Ritual durchexerziert, und mit wie vielen vom Volk! Beinahe die Hälfte von ihnen hatte sie zum Erst-Tvinnr geführt; nie aber war sie vor der Aufgabe gestanden, ihre Seele mit einem Wesen wie Hresh zu
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