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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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geringste Ahnung, wer sie sein mochte. Sein Blick wich dem ihren ein wenig aus. »Bin ich für etwas zu spät dran?«
    »Weißt du, was heute für ein Tag ist?«
    »Friit?« sagte er dumpf. »Nein, heut ist Mueri. Ich bin sicher, es ist Mueri.«
    »Heute ist dein Erster Tvinnr-Tag«, sagte Torlyri lachend.
    »Heute?«
    »Ja, heute.« Sie streckte ihm die Arme entgegen. »Das ist für dich ganz unwichtig, was?«
    Hresh ging nicht darauf ein, sondern starrte auf seine Füße. Mit der linken großen Zehe begann er Muster in die weiche Erde zu zeichnen. »Ich hab gedacht, morgen ist der Tag«, sagte er mit dunkler ängstlicher Stimme. »Ehrlich, Torlyri… ehrlich!«
    Sie erinnerte sich daran, wie er damals vor der Kokonschleuse auf dem Felssims gestanden hatte, zitternd in der eiskalten Luft, und wie er sie angefleht hatte, Koshmar nicht zu verraten, daß er sich hinauszuschleichen versucht hatte. Jetzt war er Jahre älter, sehr verändert, ernster geworden durch seine Aufgaben im Stammesverband; und dennoch, in Wahrheit hatte er sich überhaupt nicht verändert, oder doch? Nein, nicht in irgend etwas Wesentlichem. Er war jetzt fast schon ein Mann, nicht länger der wilde verängstigte Junge, ‚Hresh-der-die-Antworten-weiß’, das war er nun, der Hüter und Pfleger der Chroniken, der Anführer der Sucher, ohne Zweifel der Gescheiteste im ganzen Stamm, und dennoch, irgendwie war er auch ‚Hresh-der-Fragesack’ geblieben, das eigenwillige, sprunghafte, aufmüpfige Kind. Vergißt der doch glatt den eigenen Tvinnr-Tag! Zu so etwas war wirklich niemand außer Hresh fähig.
    Vor drei Tagen hatte sie ihm aufgetragen, sich auf die endgültigen Initiationsrituale in seine Mannheit vorzubereiten. Das hieß, daß er hätte fasten sollen, den Leib äußerlich und innerlich reinigen, er hätte bestimmte Gesänge singen müssen, meditieren müssen. Aber – hatte er das getan, wenigstens teilweise? Wahrscheinlich nicht. Was Hresh für wichtig hielt, das bestimmte einzig und allein er selbst.
    Aber wenn er sich nicht vorbereitet hat, dachte sie, wie kann er dann erwarten, sein erstes Tvinnr zu feiern? Sogar er, Hresh, mußte sich doch darauf gebührlich vorbereiten. Sogar er.
    Also sagte sie: »Du siehst seltsam aus. Hast du wieder an den Maschinen der Großen Welt herumgespielt, ja?«
    Er nickte.
    »Und du hast Sachen geschaut, die dich beunruhigen?«
    »Ja«, sagte er.
    »Möchtest du mit mir darüber reden?«
    Hastig schüttelte Hresh den Kopf. »Eigentlich nicht.«
    In seinen Augen hing noch immer dieser halb abwesende Ausdruck. Er schien auf irgendeinen Punkt hinter ihrer linken Schulter zu starren, als ertrage er höflicherweise die Unterhaltung, ohne irgendwie sichtlich an ihr teilzuhaben. Er hatte sich in einen Schmerz vergraben, dem Torlyri einfach nicht auf die Spur kommen konnte. Immer mehr verstärkte sich in ihr die Überzeugung, daß es falsch wäre, ihn am heutigen Tag zu seinem ersten Tvinnr zu führen.
    Aber wenigstens konnte sie versuchen, seinen Schmerz zu lindern.
    Also sandte sie Energie zu ihm hinüber und Wärme, berührte ihn, hüllte ihn ein. Hresh starrte weiter ins Leere. In einer seiner Wangen zuckte und pulsierte etwas.
    Nach einer Weile sprach er wie von weit weg: »Während wir hier stehen, kann ich rings um mich herum überall die Vergangenheit sehen. Das alte Vengiboneeza. Das Vengiboneeza aus der Zeit der Großen Welt.« Seine Stimme klang merkwürdig heiser. Seine Unterlippe bebte. Und jetzt blickte er ihr zum erstenmal direkt in die Augen, und sie sah eine Fremdartigkeit in seinem Blick und auch Furcht, wie sie dies niemals zuvor dort erblickt hatte. »Manchmal, Torlyri, weiß ich nicht, wo ich bin. Oder in welcher Zeit. Die antike Stadt überlagert diese jetzige, sie hebt sich und breitet sich wie eine Maske darüber, wie eine Vision, wie ein Traum. Und das macht mir Angst. Weißt du, daß ich nie zuvor wirklich vor irgend etwas Angst gehabt habe, Torlyri? Ich will einfach nur die Dinge erkennen und begreifen. Und darin ist ja nichts, weswegen man sich ängstigen müßte, kann gar nichts zum Fürchten sein. Aber manchmal sehe ich Dinge, wenn ich nach Vengiboneeza hineingehe, die… die…« Seine Stimme schwankte. »Die antike Stadt erwacht für mich zum Leben. Und wenn dies geschieht, lagert sie sich über diesen Trümmern hier wie eine leuchtend goldene Maske, die so schön ist, daß es mir Entsetzen einflößt. Und dann komme ich in diese Stadt, diese Ruinenstadt, zurück, und dann liegt die

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