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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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für ein absurdes lächerliches Wort! Ein männlicher Stammeshäuptling! So etwas war für Kreaturen wie die Beng denkbar, aber doch nicht für das Volk! »Wer kommt mit mir?« hatte Harruel gerufen. Seine rauhe scharfe Stimme hallte unablässig in ihr nach. »Diese Stadt hier bedeutet Unheil und Krankheit, und wir müssen aus ihr fortziehen! Wer kommt mit mir und begründet mit mir ein großes Königreich, weit weg von hier? Wer zieht mit Harruel? Wer? Wer?«
    Konya. Salaman. Bruikkos. Nittin. Lakkamai.
    »Wer zieht mit Harruel? Wer? Wer? Sei du Häuptling, soviel es dir beliebt, Koshmar. Die Stadt gehört dir. Ich aber werde aus ihr fortziehen und dir kein Ärgernis mehr sein.«
    Minbain. Galihine. Weiawala. Thaloin. Nettin.
    Einer nach dem anderen waren sie auf Harruels Seite übergewechselt, und sie stand da wie ein versteinertes Weib, und ließ sie fortgehen, denn sie wußte, daß sie nichts tun konnte, es zu verhindern.
    Die Namen der Dahingezogenen waren für sie wie ein ätzender Tadel. Sie hatte kurz daran gedacht, Hresh zu bitten, er möge sie nicht in die Chronik eintragen, ja den gesamten Vorfall zu unterschlagen. Aber dann war ihr bewußt geworden, daß die Eintragung ein Muß war, und zwar umfassend und ohne Beschönigungen: die Spaltung des Stammes, die Niederlage des Häuptlings. Denn genau dies war es, eine Niederlage, und die schlimmste, welche jemals ein Stammeshäuptling hatte hinnehmen müssen. Aber die Chronik durfte nicht nur eine Aufzeichnung der Triumphe sein. Koshmar rief sich selbst strikt zur Raison. Nein, in den Chroniken mußte die Wahrheit niedergelegt sein, und zwar die gesamte Wahrheit, wenn sie für jene irgendeinen Nutzen haben sollten, die sie in unausdenklicher Zukunft – vielleicht – lesen würden.
    Einer von sechs Erwachsenen des Stammes hatte sich dafür entschieden, ihre Oberherrschaft abzuschütteln. Nun war der Stamm erschütternd geschrumpft, nur noch ein ärmlicher Rest, einige seiner kühnsten Krieger waren verschwunden, und vielversprechende Jungfrauen und junge Mütter und zwei Kinder, die die Hoffnung auf die Zukunft garantiert hatten. Hoffnung? – Was für eine Hoffnung konnte es denn jetzt noch geben? »Die Stadt gehört dir«, hatte Harruel gesagt. Aber dann hatte er hinzugefügt: »Vielmehr, sie gehört jetzt den Behelmten.« Und ja, dies war die Wahrheit. Diese Leute schwärmten überall in Vengiboneeza umher. Sie waren überall. Inzwischen war es wahrhaftig ihre Stadt geworden. Trafen sie in irgendwelchen vorstädtischen Bezirken auf Angehörige des Volkes, so gab es zornige finstere Blickwechsel, und manchmal auch scharfe Worte, als verübelten die Leute vom Bengvolk es, daß jemand in ihren Bereich eindringe. Und Hresh und seine ‚Sucher’ zogen nur noch gelegentlich in die Ruinenbereiche, um nach den Schätzen der Großen Welt zu graben; Hresh allerdings ging anscheinend doch ziemlich regelmäßig in das Beng-Viertel, um dort mit deren Altem Mann zu konferieren. Die Beziehung zwischen den beiden schien irgendwie völlig abgehoben und persönlich zu sein, vollkommen unbeeinträchtigt von den Spannungen, die sich zwischen den zwei Völkern immer mehr abzeichneten. Aber im übrigen hatte sich der Stamm in sich selbst zurückgezogen, man blieb überwiegend in der Siedlung oder in deren Nähe und leckte die Wunden, die der Tag der Spaltung geschlagen hatte.
    Hin und wieder fragte sich Koshmar, ob es nicht die klügste Entscheidung wäre, wenn man sich ganz und gar aus Vengiboneeza zurückzöge, ins weite freie Land zurückkehrte und ganz von vorn begönne. Doch jedesmal, wenn solche Gedanken in ihr heraufdrangen, würgte sie sie wieder hinunter. In dieser Stadt sollte ihr Volk seinem Schicksal begegnen; so stand es im Buch des Weges. Und was wäre das schon für ein Schicksal, sich davonzustehlen wie feige Tiere und die Stadt einem anderen Stamm zu überantworten? Das ‚Volk’ war mit einem Ziel und einer Aufgabe hierher gekommen – und die Aufgabe war noch nicht gelöst. Also müssen wir bleiben, dachte Koshmar.
    Aber wenn ich Harruel jemals wieder begegne, schwor sie sich, dann werde ich ihn mit meinen eigenen zwei Händen töten. Ob er wacht oder im Schlafe liegt, wo ich ihn finde, will ich ihn töten.
    »Hast du Schmerzen?« fragte Torlyri sie eines Nachmittags.
    »Schmerzen? Was denn für Schmerzen?«
    »Dein Mundwinkel war ganz verkniffen, ganz merkwürdig. Wie wenn dir was weh täte und du dagegen ankämpfst.«
    Koshmar lachte. »Ein Faserchen

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