Am Ende des Winters
es denn? Sein Leben in diesem Bau von dunklen dumpfigen Höhlengruben zu Ende zu leben? Nein! Und abermals NEIN! Sein Volk würde den Großen Aufbruch wagen, den Auszug in die Freiheit, und diese Vorstellung war begeisternd. Die ganze Welt stand für sie bereit… Sein Herz begann zu rasen. Seine Befürchtungen fielen von ihm ab wie Schuppen.
Sachkor kam aus der kleinen Kapellenkammer geklettert. Das Eidolon Emakkis’ hielt er fest umklammert. Er bebte, und auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.
»Was ist denn?« fragte Salaman.
»Eisfresser«, sagte Sachkor. »Nein, diesmal ist es kein Wasserlauf. Diesmal sind sie es wirklich. Ich hab sie am Fels direkt auf der anderen Seite der inneren Wand nagen hören.«
»Nein«, sagte Thhrouk. »Das kann nicht sein.«
»Geh rein und hör es dir selber an!« sagte Sachkor.
»Aber ich paß doch nicht durch.«
»Dann geh eben nicht rein. Wie du willst. Ich hab jedenfalls Eisfresser gehört.«
»Kommt weiter!« sagte Anijang.
»Wartet mal!« sagte Salaman. »Laßt mich mal da rein! Ich will das hören, was Sachkor da gehört hat.«
Doch er war zu stämmig für den Durchgang; und nachdem er es eine Weile versucht hatte und seine Schultern nicht durch die enge Öffnung passen wollten, gab er es auf, und sie zogen weiter und überlegten sich, was es wohl wirklich gewesen sein mochte, was Sachkor dort drin gehört hatte. Aber direkt hinter der nächsten Biegung bekam Salaman seine Antwort. Dort dröhnte die Höhlenwandung in einer dumpfen schweren Vibration. Er drückte die Hand dagegen, und es war so, als erschütterte etwas die ganze Welt. Vorsichtig hob er sein Sensororgan und griff mit seinem Zweiten Gesicht zu. Und was er auffing, das war Wucht, Masse, Kraft, Bewegung.
»Eisfresser, genau«, sagte Salaman. »Ganz dicht hinter der Wand da. Sie fressen den Fels auf.«
»Yissou!« flüsterte Thhrouk und vollzog hastig den ganzen Kanon der heiligen Schutzzeichen. »Dawinno! Friit! Die werden uns vernichten!«
»Dazu werden sie keine Gelegenheit bekommen«, sagte Salaman. Er lächelte. »Wir verlassen den Kokon, hast du das vergessen? Wir sind schon durch die halbe Welt davon, bevor die auch nur in die Nähe der Höhe unserer Wohnkammer kommen.«
Minbains Erwachen erfolgte rasch, wie stets. Ringsum vernahm sie die Morgengeräusche des Kokons – das vertraute Scheppern und Schnattern, das Lachen, das Brabbeln von Unterhaltungen, das Platschen laufender Füße über dem Steinboden der Wohnkammer. Sie schälte sich aus ihren Schlafpelzen, erhob sich und verrichtete das morgendliche Gebet zu Mueri, dann sprach sie die vorgeschriebenen Worte für die Seele ihres davongegangenen Partners, Samnibolon.
Dann stürzte sie sich auf ihre Pflichten. Es war so viel zu tun, Millionen von Dingen mußten erledigt werden, ehe das Volk im Ernst den Kokon verlassen konnte.
Hresh war bereits wach. Sie sah, wie er ihr aus der Schlafnische zugrinste, wo weiter unten die Kleinen untergebracht waren. Immer war er vor allen anderen wach, sogar schon, bevor Torlyri aufstand, um das Morgenopfer darzubringen. Manchmal fragte Minbain sich, ob der Junge überhaupt je schlief.
Er kam zu ihr herübergehoppelt, die dünnen Arme und Beine wirbelten wie Trommelstöcke, sein Sensororgan stakte komisch unorthodox hinter ihm drein. Sie umarmten einander. Der Bub besteht ja nur aus Knochen, dachte sie. Er ißt einigermaßen, aber nichts setzt bei ihm an: er verbraucht die ganze Energie für dieses viele Denken, was er da immer tut.
»Was meinst du, Mutter? Ist heute der Tag?«
Minbain lachte leise. »Heute? Nein, Hresh, nein, noch nicht. Heute noch nicht, Hresh.«
Als Hresh nämlich Koshmars Erklärung gehört hatte, in der sie sagte: »Der Tag ist gekommen, an dem wir hinausziehen…«, da hatte er doch tatsächlich geglaubt, das Volk werde am selbigen Tag losziehen. Aber das war natürlich nicht möglich. Zunächst mußte man die Totenfeier für den dahingegangenen alten Träumeträumer abhalten, und dies war ein Ereignis voll Großer Zeremonial- und Mysteriengewalt. Niemand wußte so recht, welches Ritual beim Tode eines Träumeträumers nun wirklich das rechte sei – irgendwie erschien es nicht als passend, ihn einfach hinauszubringen und zu den übrigen Gebeinen unten am Hang zu werfen –, doch schließlich hatte Thaggoran eine relevante Stelle in den Chroniken entdeckt (oder doch behauptet, er habe so etwas gefunden), und das Zeremoniell erforderte eine Menge Gesang und Gebete und einen
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