Am Ende des Winters
Sie könnten sie vielleicht sogar aus dem Volk ausstoßen. Aber ich weiß, sie hat das wirklich nicht so ganz wörtlich gemeint. Sie ist eine sehr liebe Frau, die Cheysz – sehr sanft… und sehr ängstlich…« Minbain brach ab. »Fürchtest du dich denn davor, den Kokon zu verlassen, Hresh?«
»Ich?« sagte er, und in seiner Stimme schmetterte empörte Ungläubigkeit. »Aber ganz bestimmt nicht!«
»Das habe ich mir beinahe gedacht«, sagte Minbain.
»Im Glied angetreten!« rief Koshmar. »Etwas zackiger! Ihr kennt alle eure Plätze. Also, stellt euch schon auf!« In der linken Hand trug sie den Stab des Aufbruchs, einen Speer mit Obsidianspitze in der Rechten. Um die rechte Schulter und über ihre Brust war eine leuchtendgelbe Schärpe geschlungen.
Hresh merkte, daß er zu frösteln begann. Endlich war der Augenblick gekommen! Sein Traum, sein Wunsch, seine Freude. Der ganze Stamm war auf dem Platz des Auszugs versammelt. Torlyri, die Opferpriesterin mit der milden Stimme, drehte das Rad, das die Wand bewegte, und die Wand bewegte sich.
Kühle Luft strömte herein. Die Luke war offen.
Hresh starrte Koshmar an. Sie wirkte seltsam. Ihr Fell war so aufgeplustert, daß sie doppelt so groß wie sonst wirkte, und ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Die Nasenlöcher waren gebläht; zwanghaft fuhren ihre Hände immer wieder über ihre Brüste, die größer wirkten als gewöhnlich. Sogar ihre Geschlechtsteile wirkten wie von Hitze oder Brunft geschwollen. Aber Koshmar war keine Brüterin und gehörte nicht zur Züchterkaste; es war merkwürdig, sie in einem derartigen hormonalen Erregungszustand zu sehen. Irgendeine starke Emotion mußte von ihr Besitz ergriffen haben und tobte nun in ihr. Dachte Hresh. Eine Erregung, ausgelöst vom Anbruch der Zeit des Aufbruchs. Wie stolzgeschwellt sie sein mußte, daß sie es war, die den Stamm aus dem Kokon führen durfte! Wie aufgeregt!
Und Hresh wurde bewußt, daß auch er eine Spur der gleichen Erregung fühlte. Er blickte an sich hinunter. Auch seine unentwickelte Kopulationsrute ragte steif schräg empor. Die kleinen Kugeln darunter kamen ihm schwer und hart vor. Sein Sensororgan summte und sauste.
»Also gut, und jetzt vorwärts, marsch!« dröhnte Koshmar. »Bewegt euch und bleibt im Glied – und singt! Singt!«
In den Augen vieler ringsum war deutlich Entsetzen zu lesen. Die Gesichter waren schreckensstarr. Hresh schaute zu Cheysz hin und sah, daß sie bebte, doch Delim hatte sie an einem Arm gepackt und Kalide am anderen, und sie schoben sie so mit sich vorwärts. Ein paar unter den anderen Frauen sahen genauso ängstlich aus – Valmud, Weiawala, Sinistine –, auch einige der Männer, sogar Krieger wie Thhrouk und Moarn, fühlten sich sichtlich unwohl. Hresh begriff das nur schwer, was für eine schreckliche Furcht sie fühlen mußten, als sie da nun aufbrachen in die unbekannte frostige Wüstenei, die sie erwartete. Für Hresh war der Große Aufbruch nicht früh genug gekommen, aber den meisten anderen erschien er wohl als ein scharfer trennender Schnitt, wie von einem niedersausenden Hackbeil. Den starren Blick hinaus zu wenden in diese geheimnisschwere frostige Fremde jenseits des Kokons – zu weichen von der einzigen wärmenden Welt, die sie und ihre Vorväter während einer Zeit so gewaltiger Weite erfahren hatten, daß es schon fast eine Ewigkeit war – nein – nein, die Männer auch, sie waren hirnlos vor Furcht, männiglich allesamt, bis auf ein paar wenige Mutige. Hresh erkannte dies ohne Schwierigkeiten. Er fühlte Verachtung in sich für ihre feige Verzagtheit und ein mitleidiges Verständnis für ihre Furcht; eine unentwirrbar ineinander verschlungene Empfindung.
»Singt!« schrie Koshmar noch einmal.
Ein paar Stimmen brachten brüchige scheppernde Laute hervor. Koshmars Stimme, Torlyris, Hreshs. Der Krieger Lakkamai, der sonst stets so still war, begann auf einmal zu singen. Und dann kam auch Harruels rauhe unmusikalische Stimme und die Salamans; und dann – zu seiner Überraschung – die seiner Mutter, Minbain, die kaum jemals gesungen hatte; und einer nach dem anderen griffen sie die Melodie auf, unsicher zunächst, dann kräftiger, bis schließlich aus sechzig Kehlen zugleich der Hymnus an den Neuen Frühling ertönte:
Das Dunkel endet
Leuchten wird das Licht
Die Wonnezeit der Wärme
Unsre Zeit ist jetzt.
Koshmar und Torlyri traten, Schulter an Schulter, durch die Schleuse; Thaggoran humpelte dicht hinter ihnen,
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