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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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auf den dunklen kalten Fels meißelten und kratzten, sich in die Erde gruben, den Abhub fortschafften, die Wandungen glätteten und die Gewölbe mit Strebebögen abstützten – es mußte anderthalb Ewigkeiten gedauert haben, auch nur einen solchen Gang zu gestalten. Und wieviele davon gab es hier unten! Dutzende, Hunderte – die eine Weile in Gebrauch waren, ehe man sie aufgab. Salaman fragte sich, wieso das Volk nicht einfach dieselbe Anordnung von Gängen und Kammern von Anfang an und über die Zeiten hin beibehalten hatte, da der Stamm ja während des jahrhundertelangen Aufenthalts im Kokon zahlenmäßig nicht gewachsen war. Die Antwort darauf, vermutete er, mußte wohl in dem menschlichen Bedürfnis zu suchen sein, beständig und unablässig mit etwas beschäftigt sein zu müssen, höhere Ziele im Leben, als nur zu fressen und zu schlafen. Während einer Zeitspanne, die jeden Begriff überstieg, war das Volk in diesem Berghang am Großen Fluß gefangen gewesen und hatte sozusagen geschlafen, sich vor dem bitterharten Winter draußen lange und gemütlich in einem Zufluchtsort versteckt; und das Volk mußte dort seine Feldfrüchte besorgen und die Tiere versorgen und hatte seinen Exerzieraufgaben und den Ritualpflichten nachzukommen – doch selbst dies genügte dem Volk nicht. Andere Anlässe und Auslässe zur Energieverschwendung mußten gefunden werden. Also erbauten die Menschen des Volkes diesen Tunnelwirrwarr. Yissou! Was für eine Plackerei das gewesen sein mußte!
    Als sie weiter vorankamen, erblickte Salaman in allen Winkeln seltsame Schatten. In den Tiefen schwebten geheimnisvolle Lichterfunken. Ab und zu sah er in der Ferne rätselhafte schimmernde Umrisse – gedrungene Pfeiler, schwere Bögen. Die vergessenen Kunstwerke vergessener Menschen. Hier unten war ein ganzes geschlossenes System von Höhlen und Gängen. Uralte Kammern, verlassene Altäre, Nischenreihen, steinerne Bänke. Zu welchem Zweck? Wie alt? Wann, vor wie langer Zeit verlassen?
    Ab und zu vernahm er Laute wie ein weit entferntes Brüllen, wie von einem großen ungeheuerlichen Tier, das in den fernen Winkeln im riesigen Bauch des Berges in Ketten liegt. Und Salaman hörte seinen eigenen keuchenden Atem kontrapunktisch gegen das ferne Brüllen. Die Welt hing in der Schwebe rings um ihn. Und er befand sich in ihrem Mittelpunkt, begraben in einem Grab aus Stein.
    »Hier gehen wir links weiter«, sagte Anijang.
    Sie waren an einem Punkt angelangt, von dem aus ein halbes Dutzend unregelmäßig geformter Tunnels strahlenförmig von einer Zentralgalerie ausgingen. Der Steinboden war hier ungeglättet und fiel steil ab, beunruhigend steil: es strengte die Knie stark an, wenn man derart steil und rasch abwärts steigen mußte. Der Gang verengte sich, je tiefer sie kamen. Salaman begann zu begreifen, warum man für diese Expedition Knaben ausgewählt hatte – und einen zusammengeschrumpelten Uralten wie Anijang. Gestandene, ausgewachsene vollfleischige Männer – wie etwa Harruel und Konya –, die wären zu feist gewesen für diese engen Korridore. Und sogar er hatte wegen seiner breiten Schultern und seines starken Körperbaus an manchen engeren Stellen Schwierigkeiten voranzukriechen.
    »Sag mal, Salaman… was meinst denn du, wie das sein wird, wenn wir hinaus ziehen?« fragte Thhrouk plötzlich völlig zusammenhanglos.
    Die Frage überraschte Salaman. Er wandte den Kopf über die Schulter. »Woher soll ich denn das wissen? War ich etwa schon mal draußen?«
    »Bestimmt nicht. Bloß an deinem Namenstag, und das dauerte ja wohl nicht besonders lang. Aber was meinst du, wie es dort sein wird?«
    Er zögerte. »Anders. Schwierig. Schmerzlich.«
    »Schmerzlich?« fragte Sachkor. »Wieso denn das?«
    »Dort draußen ist die Sonne. Und die verbrennt dich. Und der Wind ist dort. Man sagt, der schneidet durch dich hindurch wie ein Messer.«
    »Wer sagt das?« fragte Thhrouk. »Thaggoran?«
    »Weißt du denn nicht mehr, wie das an deinem Namenstag war? Auch wenn du bloß einen Augenblick oder zwei draußen warst. Und du hast doch gehört, was Thaggoran aus der Chronik rezitiert hat. Wie nackt und offen dort alles ist, dort draußen. Der Sand, der dir in die Augen peitscht. Und Schnee – so kalt wie Feuer.«
    »So kalt wie Feuer?« fragte Sachkor. »Aber Feuer ist doch heiß, Salaman.«
    »Ach, du verstehst schon, was ich meine.«
    »Nein. Nein, ich versteh nicht, ganz und gar nicht. Solches Zeug würde man von Hresh erwarten. Kalt wie das Feuer:

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