Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
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Sie war tot. Was machte es schon, daß der zu nadelfeinem Eis gefrorene Regen ihr die Haut aufriß, als würde sie geschunden! Die junge Frau kniff die Augen gegen den Wind zusammen und zog ihre Kapuze aus Vielfraßfell enger um den Kopf. Heftige Windstöße drückten ihr die Bärenfellbeinlinge gegen das Schienbein.
Wuchsen diese Bäume weiter vorn? Sie glaubte sich zu erinnern, vor einiger Zeit am Horizont eine unregelmäßige Reihe von Bäumen gesehen zu haben; hätte sie doch besser aufgepaßt oder wäre ihr Gedächtnis so gut wie beim Rest des Clans! In ihrer Vorstellung gehörte sie immer noch zum Clan; dabei hatte sie das nie getan, und jetzt war sie tot.
Sie senkte den Kopf und stemmte sich gegen den Wind. Der Sturm war ganz plötzlich über sie hergefallen, kam vom Norden heruntergebraust, und sie brauchte verzweifelt Schutz. Aber sie war weit von der Höhle entfernt und kannte die Gegend nicht. Der Mond hatte ab- und wieder zugenommen seit sie fortgegangen war, und noch immer hatte sie keine Ahnung, wohin sie eigentlich ging.
Nach Norden, zum Festland hinter der Halbinsel, das war alles, was sie wußte. In der Nacht, da Iza gestorben war, hatte diese ihr gesagt, sie solle fortgehen, ihr erklärt, Broud würde bestimmt Mittel und Wege finden, ihr wehzutun, wenn er Führer des Clans wurde. Iza hatte recht gehabt. Broud hatte ihr wehgetan, schlimmer als sie es sich je vorgestellt hatte.
Er hat keinen Grund gehabt, ihr Durc wegzunehmen, dachte Ayla. Er ist mein Sohn. Broud hat auch keinen Grund gehabt, mich zu verfluchen. Er ist es, der die Geister erzürnt hat. Er ist es, dem sie das Erdbeben zu verdanken hatten. Diesmal hatte sie jedenfalls gewußt, was sie erwartete. Aber dann war alles so schnell gegangen, daß sogar der Clan eine Zeitlang gebraucht hatte, damit fertigzuwerden und sie aus seinen Reihen auszustoßen, daß sie ihnen nicht mehr unter die Augen kommen durfte. Nur Durc hatten sie nicht davon abhalten können, sie zu besuchen; dabei war sie für den Rest des Clans tot gewesen.
Broud hatte sie in einer Aufwallung von Zorn verflucht. Als Brun sie verflucht hatte, das erste Mal, hatte er sie darauf vorbereitet. Er hatte Grund dazu gehabt; sie hatten gewußt, daß er es tun mußte, und er hatte ihr eine Chance gegeben.
Als wieder ein eisiger Windstoß sie anfuhr, hob sie den Kopf und stellte fest, daß es Zwielicht war. Bald würde es dunkel sein, und sie hatte kein Gefühl mehr in den Füßen. Schneematsch sickerte ihr durch die ledernen Füßlinge, trotz des Riedgrases, mit dem sie sie ausgestopft hatte. Erleichtert erkannte sie eine verkrüppelte zwergwüchsige Kiefer.
Bäume waren selten in der Steppe; sie wuchsen nur dort, wo der Boden feucht genug war. Eine Doppelreihe von Kiefern, Birken oder Weiden, die der Wind zu geduckten, unregelmäßigen Formen hatten verkümmern lassen, verriet für gewöhnlich einen Wasserlauf; bei anhaltender Trockenheit ein willkommener Anblick in einem Land, in dem das Grundwasser selten war. Wenn Stürme von den großen Gletschern im Norden herunterfegten, boten sie, wenn auch nur geringen, Schutz.
Nach ein paar Schritten kam die junge Frau an den Rand eines Flusses, obwohl nur eine schmale Rinne freies Wasser zwischen den vereisten Ufern dahinfloß. Sie folgte ihm abwärts in westlicher Richtung und hielt dabei Ausschau nach dichterem Baumbewuchs, der mehr Schutz gewähren würde als das Gestrüpp in der Nähe.
Mit heruntergezogener Kapuze kämpfte sie sich mühselig voran, doch als der Wind unvermittelt aufhörte, hob sie den Kopf. Auf der anderen Seite schürzte ein niedriger Steilhang den Fluß. Das Riedgras schützte beim Hinüberwaten zwar nicht vor dem eisigen Wasser, doch sie war froh, dem Wind nicht mehr ausgesetzt zu sein. An einer Stelle war der Hang ausgehöhlt und eine Art Dach aus verfilzten Graswurzeln und ineinander verflochtener alter Vegetation entstanden; darunter fand sich ein einigermaßen trockener Platz.
Sie löste die vom Wasser aufgequollenen Riemen, mit deren Hilfe sie die Kiepe auf ihrem Rücken festhielt, nahm sie mit einem Schulterrucken herunter und holte ein schweres Auerochsenfell sowie einen derben, von kleineren Zweigen befreiten Knüppel heraus. Dann stellte sie ein flaches, sanft abfallendes Zelt auf, dessen Enden sie mit Felsbrocken und schwerem Treibholz beschwerte; der aufgestellte Knüppel hielt es vorn offen.
Mit den Zähnen löste sie die Riemen ihrer Handlinge, ungefähr runde Lederstücke, an denen noch das
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