Ruby und Niall
RUBY UND NIALL
Einhundertdreizehn!
Seit Ruby am Ticketschalter des Busbahnhofs arbeitete, verging kein Tag, an dem sie sich nicht wünschte, wieder woanders zu sein. In einem anderen Job und in einem anderen Leben. Ihre bevorzugte Schicht war von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends, weil sie dann nicht früh aufstehen musste, es nach der Arbeit aber noch nicht zu spät war, um für ein Bier in die nächste Bar zu wandern. Manchmal tauschte sie die Schicht, aber das geschah selten. Sie kannte die Entfernungen zwischen den Ortschaften aus dem Schlaf und auch die Ticketpreise hatte sie im Kopf. Es war in ihrem Job die einzige Herausforderung, die sich bot.
An manchen Abenden war so wenig zu tun, besonders wenn keine Touristen mehr unterwegs waren, dass sie in aller Ruhe ihre Bücher und Zeitschriften lesen, oder mit ihrer Freundin telefonieren konnte. Die Touristen kamen im Sommer und Spätsommer, sehr selten im Winter, denn Winslow war kein Wintersportzentrum. Schnee genug, aber es fehlte an Bergen.
"Ich verkaufe nur Tickets, wenn die Leute darauf brennen, von hier wegzukommen", sagte Ruby, "an die besonders Glücklichen verkaufe ich Einzeltickets."
Wenn Ethan um acht Uhr auftauchte, packte sie ihre Sachen ein und ging zu Fuß nach Hause. Ein Auto konnte sie sich nicht leisten, im Sommer fuhr sie mit dem Rad, außerdem war in dieser Kleinstadt alles in erreichbarer Nähe.
Es war Ende November, sie hatten viel Schnee, und es war eiskalt. Sie würde sich beeilen, nach Hause zu kommen.
Ethan riss die Tür des Schalters auf und rief: "Wie lief's heute?"
Er trug seine Lima-Strickmütze, mit der er wie ein Idiot aussah, weil sie seine Segelohren betonte.
"Hundertdreizehn nach Ongoquit", sagte Ruby und hielt ihm die Victory-Finger unter die Nase, "das müsst ihr erst mal schlagen."
Sie hatte die einhundertdreizehn Meilen bereits in der Hitliste eingetragen, die rechts neben ihr an der Wand hing, dort, wo sie kein Kunde sehen konnte. Sie veranstalteten diesen kleinen wöchentlichen Wettbewerb, um die Langeweile zu vertreiben. Wer ein Ticket von Winslow zu einem möglichst weit entfernten Zielort verkaufte, war der Gewinner und bekam am Samstagabend, den sie immer gemeinsam verbrachten, alle Getränke umsonst. Sie waren zu dritt, Ruby Tucker, Ethan Ashdale und Julianne McFarlane, die Dienstälteste unter ihnen. Julianne riefen sie nur "Mom", obwohl sie kaum fünf Jahre älter war als die Beiden. Aber sie war verheiratet und hatte drei Kinder zu Hause, deshalb brauchte sie die Schicht während der regulären Schulzeiten. Ihr Mann war auf großen Baustellen im ganzen Land unterwegs und nur selten zu Hause.
Ethan zog die Mütze von seinem Kopf, präsentierte sein frisch blondiertes Haar und warf seinen Wollmantel in die Ecke. Er wohnte in einer WG mit drei anderen Kerlen zusammen, was Ruby jeden Samstag, wenn sie zusammen saufen gingen, zu der Frage veranlasste, ob er auch schwul sei, aber in den ganzen drei Jahren, seit sie im Busbahnhof arbeitete, hatte Ethan sich jedes Mal um eine Antwort gedrückt. Er rückte einfach nicht damit heraus.
Seine Schicht ging nur bis ein Uhr morgens, dann wurde der Schalter geschlossen, pünktlich nachdem der letzte Bus aus Skowhegan angekommen war. Nach ihm kamen nur noch die Putzfrauen von der anderen Seite der Grenze, die schnell durch die Schalterhalle gingen, Boden und Sitzbänke reinigten und Abfalleimer leerten. Früher hätte man in der Schalterhalle übernachten können, in den Zeiten, als diese noch nicht abgeschlossen wurde, aber dort hatten sich Nacht für Nacht die Obdachlosen versammelt und der Stadtrat hatte beschlossen, dem ein Ende zu machen. Sollten sich Touristen hier hin verirren, sollten sie nicht von den Pennern verscheucht werden.
Samstags übernahm der Bezirksleiter Richard Golightly den Schalter, und sonntags bekamen Reisende nur einfache Karten direkt bei den Busfahrern. Golightly war Anfang fünfzig und seine Frau war nach zwanzig Jahren Ehe mit einem Sommertouristen aus Florida durchgebrannt. Nach dem ersten Schock hatte er behauptet, er würde sie spätestens nach drei Monaten zurückbringen, weil sie ihm auf die Nerven ging, aber Ethan hatte gemeint, er würde sie eher in Florida den Krokodilen vorwerfen, als die lange Reise auf sich zu nehmen.
"Alligatoren", hatte Ruby korrigiert.
Als Chef war Richard Golightly erträglich, er überprüfte die Abrechnungen und achtete darauf, dass niemand hinter dem Schalter rauchte, er hörte sich Beschwerden an, die es
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