Dunkle Häfen - Band 2
Versailles
Nordfrankreich, 1714
"In Paris hä tte ich ein eigenes Haus gehabt", erzählte der Marquis Ramis durch das offene Wagenfenster.
Dicke Wolken bedeckten den Himmel und tauchten alles in Grau. Ihrem munteren Begleiter, der vorzüglich Englisch sprach, schien das triste Wetter allerdings nicht die Laune zu verderben. Seit sie in Le Havre an Land gegangen waren, plauderte er ununterbrochen. Dennoch war er nicht im Geringsten aufdringlich, auf dem Schiff hatte er ihr klaglos seine Kajüte überlassen und sein Geschwätz diente offensichtlich mehr der beiläufigen Unterhaltung. Ramis war solches Benehmen ihr gegenüber fremd, als eine Dame hatte sie eigentlich noch nie jemand behandelt. Es hatte ihn sehr beschämt, ihr gestehen zu müssen, dass man keine Frauenkleider an Bord hatte und sie deshalb - fast eine Katastrophe - ein paar von seinen tragen müsse. Er konnte ja nicht wissen, dass Ramis schon lange keinen Rock mehr getragen hatte. Sobald sie in Frankreich waren, war das erste, was er tat, ihr neue Kleider zu kaufen. Schließlich wollte er sie ja mit nach Versailles nehmen und da konnte sie auf keinen Fall so erscheinen. Ramis hatte schon einiges von dem sagenhaften Schloss des 'Sonnenkönigs' Louis XIV gehört, Gutes wie Schlechtes. Während man in England über die Architektur staunte, zog man gleichzeitig genüsslich über seine Bewohner und deren Verderbtheit her. Man klatschte mit vorgehaltener Hand über die schlimmen Dinge , die dort vor sich gingen. Hatte man nicht gehört, der Bruder des Königs interessiere sich mehr für Männer als für seine Frau? Ramis wusste nicht, wie viel man auf solchen Klatsch geben sollte. Die Leute übertrieben grundsätzlich. Konnte denn die Untreue in der Ehe ein gesellschaftliches, wenn auch inoffizielles Muss sein? Und ging der König wirklich vor dem ganzen Hofstaat auf den Nachttopf? Jedenfalls wusste Ramis, dass die Mode, die man am englischen Hof trug, für gewöhnlich aus Versailles kam.
"Wie ist er denn, Euer König?" , wagte sie zu fragen.
Der junge Marquis schnaubte.
"Vor allem ist er alt. Verzeiht mir, aber einst hatten wir die Vormachtstellung in Europa und was sind wir jetzt? Dieser verdammte Krieg hat Frankreich ausgeblutet und sein Herz scheint mit dem des Königs immer langsamer zu schlagen! Er selbst ist schwermütig geworden und sein Glanz ist verschwunden. Wir sonnen uns im vergangenen Ruhm und leben davon, obwohl es darunter leer ist. Wusstet Ihr, dass der König vor ein paar Jahren sogar sein ganzes Silberbesteck verkaufen musste, weil zu wenig zu Essen da war? Der König liegt im Sterben, Madame... und mit ihm das Frankreich, in dessen Schein ich aufgewachsen bin."
Er sprach mit der Leidenschaft und der Verbitterung der Jugend, die den Traum der Kindheit durch ein marodes System zerstört sieht. Vorsicht kannte er anscheinend nur sehr bedingt. Wenn auch nur irgendetwas, was Ramis über König Louis gehört hatte, stimmte, so war er nicht auf den Kopf gefallen und würde solche Kritik nicht dulden.
"Früher hätte Euch der Glanz von Versailles überwältigt, doch Ihr werdet Alter und Mutlosigkeit darin vorfinden. Noch regiert der König mit fester Hand, er hat noch immer alle Macht inne."
"So bringt Ihr mich wirklich nach Versailles?"
"Ja, natürlich. Denkt Ihr, ich nehme Euch auf den Arm? Nein, ich will Euch nicht allein lassen. Die Straße ist kein Ort für eine Dame, gleichwohl, was sie gewohnt ist."
Tatsächlich, Ramis fürchtete die grausame Realität der Straße noch immer. Dort gab es keine Sicherheit, man konnte schnell aufsteigen, aber einen Moment später tot sein. Für Frauen gab es überdies kaum Möglichkeiten, um zu überleben.
"Ich danke Euch ", lächelte sie den Marquis an.
Wenn ihr auch der Gedanke, nach Versailles zu kommen, unglaublich und beängstigend schien, so gab es wenigstens jemand, der sich ihrer in diesem fremden Land annahm.
"Ach, das ist nicht der Rede wert!" , wehrte er ab. "Wie ich vorhin sagte, ich habe dort nicht einmal ein eigenes Haus. Ich lebe in einem kleinen Zimmer im Schloss. Ob Ihr es glaubt oder nicht, wir leiden an Platzmangel!"
So fuhr er mit seiner belanglosen, wenn auch für Ramis sehr interessanten Plauderei über das Leben in Versailles fort. Auf ihrer Reise kamen sie unterdessen kaum an größeren Städten vorbei. Es gab auch nur wenige, wie der Marquis ihr mitteilte.
"Früher war Paris das Zentrum von Frankreich, nun ist es Versailles. Dennoch ist Paris die größte Stadt
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