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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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nicht geknüpft, sie hätten einander genügt und seien stundenlang durch Kastanienwälder und Birkenwälder gewandert, natürlich mit Ruhepausen. Einmal habe Bettina gesagt, sie habe ein wenig Angst vor der Rückkehr in die wirkliche Welt. Er habe entgegnet, auch Birkenwälder gehörten zur wirklichen Welt. Schon, habe sie gesagt, nur höre man den Kriegslärm nicht in ihnen. Sie habe damit angespielt auf den damals tobenden Kosovo-Krieg, von dem sie tief entsetzt gewesen sei. Weißt du, habe sie weiter gesagt, ich empfinde die Untaten dort wie Schläge auf den eigenen Kopf, die mich betäuben und mir darum die Klarsicht rauben. – Er habe gesagt, so gehe es vielen, und das sei achtbar und trotzdem gefährlich, da unsere Betäubung die Täter stärke. Dann könne man also sagen, habe Bettina gemeint, daß Ratlosigkeit eine anständige Antwort auf den verheerenden Irrsinn sei und zugleich eine unanständige. Es scheine so, habe er zu ihr gesagt. Sie habe ihn heftig umarmt und an sich gedrückt, wie um zu zeigen, daß es auf Erden auch noch ganz Einfaches gebe.
    Er habe Bettina zweimal ausgeführt und auf der Bellevue-Terrasse einen Bianco di Merlot mit ihr getrunken. Sie glaube, habe sie gesagt, daß er von hier aus, noch besser von seinem Zimmer aus, hinübersehen könnte auf ihren Kurhaus-Balkon, zumindest mit einem Fernrohr, zumindest, wenn sie mit ihrem weißen Bademantel Winkzeichen geben würde. Im Bewußtsein, ein wenig närrisch zu handeln, habe er in Lugano ein kleineres Fernrohr gekauft. Am Morgen des vierten Tages, punkt neun Uhr, die Luft sei klar, das Kurhotel besonnt gewesen, habe der Test stattgefunden und erregenderweise geklappt. Er habe ihn deutlich gesehen, den weißen Bademantel Bettinas, deutlich, wenn auch nur wenig größer als ein Taschentuch. Dann sei er hinübergefahren, wie jeden Morgen, um mit Bettina das Frühstück einzunehmen. Sie sei noch nicht angezogen gewesen, er habe einmal mehr gestaunt, wie zauberhaft sie ausgesehen habe in ihrem weißen Bademantel und ihrem turbanartig arrangierten und orangefarbenen Kopftuch. Mit kindlicher Freude habe sie auf seine Meldung reagiert, daß er ihr Winken deutlich habe sehen können, und die Freude in ihren Augen vergesse er nie. Kein Tal, so habe er damals gedacht, kein Tal sei breit genug, um ihn von Bettina zu trennen. Sie hätten, während sie sich angezogen habe, abgemacht, das Winkspiel anderentags zu wiederholen, wieder um neun, nach ihrem Bad, Bettina sei ja jeden Morgen um halb neun ins Hallenbad schwimmen gegangen. Dann hätten sie gefrühstückt, der Rest des Tages aber sei ihm nicht mehr erinnerlich.
    Sehen Sie, sagte Loos und wandte den Blick erstmals vom Feuer weg zu mir, sehen Sie jetzt, wie recht ich hatte: An Pfingsten züngeln die Flammen. – Thomas, sagte ich, wir duzen uns. – Er hörte mich nicht, er starrte bereits wieder in den Kamin. Minuten vergingen. Frische Himbeeren, sagte er plötzlich, Himbeeren, daran erinnere ich mich, die gab es am Abend zum Dessert. – Ich weiß, sagte ich, deine Frau hat sie als Vorspeise bestellt, da sie befürchtete, sie könnten, bevor sie mit dem Hauptgang fertig war, schon von den anderen aufgegessen sein. – Einen Dreck weiß er, murmelte Loos. – Obwohl mir klar schien, daß er, wahrscheinlich ohne es zu merken, etwas Gedachtes laut ausgesprochen hatte, war ich ziemlich perplex und konnte mir seine Grobheit so wenig erklären wie seine Rückkehr zum Sie. Wieder vergingen Minuten. Er sank zusehends in sich zusammen. Ich stand auf und holte ein Glas Wasser für ihn. Handschellen hättest du bringen sollen, sagte er, bevor er das Wasser trank. – Für mich oder dich? fragte ich. Für mich natürlich, sagte er. – Ich fragte, was er denn verbrochen habe. Er schwieg. Sein Körper straffte sich. Dann sagte er: Verzeih, ich war ein wenig durcheinander, es geht schon besser, ich kann jetzt, glaube ich, abschließen, du brauchst kein Scheit mehr aufzulegen, ich mach es kurz.
    Wir saßen nach dem Abendessen noch lange auf dem Balkon. Was wir geredet haben, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß meine Frau beim Abschied weinte. Ich sagte, ich käme ja in Kürze wieder. Sie könne nicht getröstet werden, sagte sie, sie weine nämlich vor Glück. Am anderen Morgen, einem Freitag, es war der elfte Juni, stand ich zeitig am Fenster. Der Tag war wieder klar, das Fernrohr auf dem Stativ, die Linse scharf. Vor lauter Furcht, Bettinas Auftritt zu verpassen, begann ich schon um zehn vor neun

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