Am Hang
habe, sei ihr der Ort ihres Aufenthalts freigestellt worden. Sie habe diverse Prospekte studiert, auch einen des Kur- und Wellneßhotels Cademario, und weil sie sich daran erinnert habe, daß sie und er anläßlich ihres Hesse-Wochenends in Montagnola vom Belle-vue-Zimmer aus, eng aneinandergeschmiegt, zusammen über das Tal geschaut hätten, über den glitzernden See hinüber zur Hügelkette und zum hoch oben eingebetteten Dorf samt seinem wuchtigen Kurhaus –, weil sich Bettina daran erinnert habe, sei sie sofort entschieden gewesen. Er aber habe Bedenken geäußert, ihm wäre es lieber gewesen, sie in größerer Nähe zu haben, um sie so häufig wie möglich besuchen zu können. Sie habe darauf gemeint, daß es am schönsten und einfachsten wäre, wenn sie zusammen in den Urlaub fahren könnten. Er habe unverzüglich mit dem Rektor der Schule gesprochen und um Urlaub für eine Woche nachgesucht, der ihm gewährt worden sei, natürlich unter der Bedingung, die ausfallenden Stunden nachzuholen. Bettina habe sich gefreut, so wie sie überhaupt von Tag zu Tag und trotz gelegentlicher Mattigkeitsanfälle frohmütiger geworden sei. Das Wort frohmütig klinge zwar altertümlich, aber es passe. Sie hätten also gebucht, ein Doppelzimmer mit Südsicht und Balkon, und zu Beginn der zweiten Juniwoche seien sie abgereist, mit dem Auto, um freier zu sein. Er müsse mir das Kurhotel nicht schildern, auch nicht die überwältigende Aussicht, die sich von ihm aus biete, ich hätte ja beides gesehen. Sie seien auf ihrem Balkon gestanden, die Arme aufgestützt auf dem Geländer, und hätten ins Weite geschaut, mit leichtem Schwindel auch in die Tiefe. Für Lebensmüde, habe Bettina gesagt, sei das Geländer, das ihr nicht einmal bis zum Bauchnabel reiche, eine gefährlich niedere Schwelle. Er habe entgegnet, daß man in einem Wellneßhotel nicht unbedingt mit Lebensmüden rechne. Sie habe ihm recht gegeben und seine Hand genommen. Sie seien auf dem Balkon gestanden und hätten sich wie neuvermählt gefühlt. Die erste Nacht sei dann auch wirklich die reinste Hochzeitsnacht geworden, zumindest partiell. An dieser Stelle müsse er, so peinlich es ihm sei, auf eine Art Krankheit zu sprechen kommen, die ihn bis heute bedränge. Er leide unter Bruxismus.
Loos nahm ein Schlücklein Cognac, ich sagte: Nie gehört, ein Männerleiden? – Er schüttelte den Kopf. Bruxismus sei der Fachausdruck für nächtliches Zähneknirschen oder genauer gesagt: für das Zähneknirschen im Schlaf. Er merke kaum etwas davon, zeitweise bleibe es auch aus, zeitweise sei es allerdings stark, dann könne es geschehen, daß ihn sein Knirschen wecke, daß er am Morgen Kieferschmerzen habe, Kaumuskulaturbeschwerden, manchmal auch Ohrenweh. Und ausgerechnet damals, in Cademario, sei das Geschick so tückisch gewesen, ihm eine Phase ausgeprägten Knirschens zu bescheren, so ausgeprägt wie nie zuvor. Das Knirschen allein wäre wahrscheinlich erträglich gewesen, es sei kein lautes Geräusch, aber bei ihm alterniere es leider recht häufig mit Schnarchen. Und beides zusammen sei für die Mitwelt natürlich zermürbend. Bettina habe kaum ein Auge zugetan in jener ersten Nacht und sei gerädert gewesen. Sie hätten das Problem besprochen. Für ihn sei klar gewesen, daß seine Knirsch- und Schnarchaktivität Bettinas Schlaf und damit ihre Erholung gänzlich verhindern würde, weshalb er vorgeschlagen habe, in getrennten Zimmern zu schlafen. Bettina habe sich zuerst gewehrt und schließlich traurig zugestimmt. Er habe sich um ein Zimmer bemüht, um ein Einzelzimmer natürlich, und ärgerlicherweise sei keines mehr frei gewesen. Ein zweites Doppelzimmer zu mieten sei aber angesichts des Preises fast nicht in Frage gekommen.
Beratschlagend seien sie auf dem Balkon gestanden, da habe seine Frau den Arm gehoben, zur jenseits des Tals gelegenen Erhebung der Collina d’oro gezeigt und ›geh doch in unser Bellevue‹ gesagt. Das habe ihm eingeleuchtet, trotz der Luftliniendistanz von gut vier Kilometern, durch die sie während ihres Schlafs getrennt sein würden. Sie hätten diese Lösung nicht bereut, im Gegenteil, das abendliche Abschiednehmen, das morgendliche Wiedersehen und sich Wiederfinden, das sei etwas Besonderes gewesen und habe das Verbundenheitsgefühl intensiviert. Fast könne man von einem zweiten Liebesfrühling sprechen, was zwar insofern nicht ganz angemessen sei, als es in ihrem Eheleben kaum je geherbstelt habe. Kontakte zu anderen Gästen hätten sie
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