Am Hang
zu schauen. Um neun war ich bereits ein wenig ungeduldig, da sie nicht auf den Glockenschlag erschien. Sie war sehr pünktlich sonst. Es wurde fünf nach neun und zehn nach neun, kein weißer Bademantel winkte. Obwohl ich mir natürlich sagte, daß sie verschlafen haben könnte, daß sie im Hallenbad vielleicht noch aufgehalten wurde von einer Plauderei, daß sie die Abmachung vielleicht sogar vergessen hatte, wurde ich ständig nervöser. Ich rief sie an in ihrem Zimmer, sie meldete sich nicht. Ich wartete bis halb zehn, versuchte sie nochmals anzurufen, erfolglos, und fuhr dann halb verärgert, halb besorgt hinüber und hinauf zum Kurhaus. Ihr Zimmer war abgeschlossen, ich klopfte eine Weile – nichts. Dann warf ich einen kurzen Blick ins Hallenbad, zur Sicherheit auch in den Fitneßraum. Da sie auch nicht auf der Terrasse saß und nicht im Speisesaal, begann ich sie im Park zu suchen, am Außenpool, sogar im verglasten Kakteen-Haus. Nichts. Ich eilte ins Haus zurück und stieg die Treppen hoch und klopfte nochmals an Bettinas Zimmertür. Dann ging ich an die Rezeption und fragte atemlos nach meiner Frau. Die zwei Damen schauten sich an und sagten beide: Da sind Sie ja endlich! – Mit leiser Stimme bat mich die eine nach hinten in ihr Büro. Sie sagte, man habe mich nicht benachrichtigen können, es habe niemand gewußt, wo ich wohne. Es falle ihr schwer, mir sagen zu müssen, daß meine Frau verunglückt sei, im Hallenbad, um halb neun. Sie sei auf dem Beckenrand ausgerutscht und unglücklich gestürzt, vermutlich aufgeschlagen mit dem Hinterkopf, sonst wäre sie nicht bewußtlos gewesen. Es müsse nichts Schlimmes sein. Man habe sie ohne Verzug nach Lugano gebracht, ins Ospedale Civico, ob ich gleich anrufen wolle. Ich fahre hin, sagte ich und ließ mir, ohne folgen zu können, die Lage der Klinik beschreiben. Nach längerer Irrfahrt traf ich dort ein, so gegen zwölf. Man führte mich in die Intensivstation. Bettina hatte, wenn auch bewußtlos, gewartet. Erst als ich bei ihr war und ihre Hand in meiner lag, schloß sie die Augen. Mit dem Erkalten ihrer Hand erkaltete auch ich. Nur daran kann ich mich erinnern. An alles andere nicht mehr. Was zu veranlassen war, zu ordnen und zu regeln war, tat ich mechanisch. Zwei Wochen vergingen, bis die Gefühlstaubheit wich. Und das geschah, als ich zum ersten Mal Bettinas Kleiderschrank aufmachte. Der Anblick ihrer Kleider, der Röcke, Blusen, Jacken, die tot und doch erwartungsvoll an ihren Bügeln hingen, erlöste mich, ich spürte, wie der gefrorene Klumpen in mir sekundenschnell schmolz. Und wenig später entdeckte ich im Abstellräumchen neben dem Zimmer Bettinas drei neue, noch ungebrauchte blaue Koffer, die ich noch nie gesehen hatte. Ich konnte mir weder ihr Dasein erklären noch meine große Bewegung bei ihrem Anblick.
Loos schwieg. Ich fragte leise, woran Bettina gestorben sei. – Ihr großes Kopftuch, sagte er, obwohl zu einer Art Turban getürmt, habe den Aufprall zu wenig gedämpft, man gehe von einer Gehirnblutung aus, was zwar nicht verifiziert worden sei. Er habe eine Autopsie verweigert. Den Körper seiner Frau vor fremden Händen zu schützen sei ihm weit wichtiger gewesen, als den Grund ihres Todes zu kennen.
Thomas, sagte ich, das alles tut mir sehr sehr leid, ich hoffe als Freund, wenn du mir diese Bezeichnung gestattest, daß du endlich darüber hinwegkommst. – Ich bin schon fast soweit, sagte Loos und stand auf. Im übrigen bist du der erste und der einzige, der meine Geschichte vernommen hat, dies nur ganz nebenbei, jetzt aber mache ich mich auf den Weg. – Du, sagte ich, ich möchte nicht lästig sein, aber ich sähe dich gern noch einmal, nur schnell, ich hole am Morgen den Wagen. – Loos überlegte. Ich schlafe aus, sagte er, ich werde um elf auf der Terrasse sitzen, sofern es die Umstände erlauben. – Ich komme, sagte ich, ich freue mich.
Ich begleitete ihn bis zum Gartentor, wo er unschlüssig stehenblieb. Ich sagte: Also, bis morgen, und gute Träume heute nacht. – Er schien mich nicht zu hören, schien auch die Hand nicht zu sehn, die ich ihm geben wollte. Der Mond war weg, die Stille groß. Man hörte nur das leise Rauschen der Bambushecke neben uns sowie – es tönte ziemlich schaurig – das Aufeinanderschlagen von Zähnen. – Ob etwas nicht stimme, fragte ich Loos, ob er nicht doch hier übernachten wolle. – Sie haben mir geholfen, danke, sagte er. – Inwiefern denn? fragte ich. – Du hast mir sehr geholfen, sagte er.
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