Am Hang
– Ich habe dir gern zugehört, du brauchst mir nicht dafür zu danken, und daß dich das Reden, wenn ich dich richtig verstehe, erleichtert hat, das finde ich schön. – Loos trat einen Schritt auf mich zu und sagte mit gepreßter Stimme und nahe an meinem Ohr: Leg dich ins Bett mit deiner Fehldeutung, und vergiß nicht, die Tür zu verriegeln.
Dann wandte er sich ab, grußlos, und verschwand in der Dunkelheit.
III
Obwohl ich noch fast eine Stunde lang vor der erkaltenden Asche saß, blieb mir sein sonderbarer Abgang unerklärlich. Ich konnte lediglich vermuten, daß Loos durch das erzählende Vergegenwärtigen des tragischen Geschehens in einen Zustand geraten war, in dem sich das innere Aufgewühltsein als Verhaltensverwirrtheit ausdrückte. Wenn dem so war, so schien es aussichtslos, sein Benehmen zu deuten und einen Sinn in seinem Schlußwort zu finden.
Ich ging zu Bett. Loos kreiste weiter. Ich hätte ihn gern, um endlich zur Ruhe zu kommen, endgültig für verrückt erklärt. Die Handschellen fielen mir ein. Wenn einer in Handschellen gelegt werden will, so hat er Schuldgefühle. Wenn einer Schuldgefühle hat, so hat er Schuld auf sich geladen. Er muß kein Mörder sein. Er muß die Frau im Hallenbad nicht durch Ertränken getötet haben. Sie muß gar nicht im Hallenbad verunglückt sein. Sie ist nie ausgerutscht. Loos hat sich eine Todesversion zurechtgelegt, die ihn entlastet. In Wahrheit war es so: Er hat zu viel getrunken und in einer der steilen Haarnadelkurven auf der Straße nach Cademario die Herrschaft über den Wagen verloren. Todesfolge für seine Frau. Zum Beispiel. Zum Beispiel auch: Er sitzt im Kurhauszimmer, und sie steht draußen auf dem Balkon. Er sieht vom Sessel aus: Sie beugt sich über das Geländer, mehr und mehr, und er springt auf und schreit: Bettina! – und sie fällt im Moment seines Schreis. Und seither Schuldgefühle und Verrücktheit. Klar. Vergiß nicht, die Tür zu verriegeln! Das heißt: Schütz dich vor mir, ich bin ein Verbrecher! Klar. Leg dich ins Bett mit deiner Fehldeutung! Das heißt: Wie könnte ich erleichtert und befreit sein, wo ich die Wahrheit doch für mich behalten habe. – Nur eines bleibt unklar: Warum und wofür hat Loos mir gedankt? Womit könnte ich ihm geholfen haben? Ich frage ihn nochmals, morgen. Er hat sich mir umfassend anvertraut, als einzigem, wie er sagte. Er mag mich. Warum sollte er mich belügen? Was hätte er davon? Ein Badeunfall mit Todesfolge: Was soll daran denn unglaubwürdig sein? Bettina wird ins Krankenhaus gebracht und stirbt. Kein Kurhotel der Welt wird einen solchen Vorfall an die große Glocke hängen. Vorzeitig abgereist, heißt es, wenn jemand nachfragt. Ich möchte endlich schlafen. Loos mag gestört sein oder nicht, ich möchte schlafen. Oder Franziska anrufen, sie wäre vom Fach, sie hat einmal behauptet, daß jeder Mensch, was seinen Seelenzustand betreffe, die grüne Grenze zwischen krankhaft und normal mehrmals pro Tag überschreite. – Absurd. Als ob wir alle mit einem Bein im Tollhaus stünden, gute Nacht!
Pfingstsonntag: Nach miesem Schlaf, ich habe wirr und hirnverbrannt geträumt, bin ich um neun Uhr aufgestanden. Es ging mir besser als am Vortag, ich hätte jetzt arbeiten können und ärgerte mich über den Elfuhrtermin. Den hatte ich mir, was mich jetzt wunderte, einfach so eingebrockt, ohne auch nur einen Moment lang an meine Pflicht und mein Projekt zu denken. So hatte Loos mich vereinnahmt. Ich spürte Überdruß, Loos-Überdruß. Es ging mir, wie es mir oft mit One-Night-Bekanntschaften geht. Ich fühle mich, von Wein und Lust belebt, für ein paar Stunden ausgefüllt und irgendwie weltfern, und wenn ich am Morgen erwache, weil mich ein fremder Frauenfuß anstößt, zuck ich vor Schreck und Überdruß zurück.
Es änderte sich alles wieder, als ich unter milchigem Himmel hinunter zum Bellevue spazierte. Ich merkte, daß ich mich freute. Mein Vorsatz, nicht länger als eine halbe Stunde zu bleiben, machte dem Wunsch Platz, mit Loos zusammen zu essen und noch einmal, solange er es wollte, in seiner Nähe zu sein.
Ich setzte mich an unseren Tisch auf der Terrasse. Es war fast elf und Loos noch nicht in Sicht. Die Fenster seines Zimmers standen offen, ein Zeichen, daß er wach war. Ich bestellte einen Campari. Loos ließ sich Zeit, ich reinigte die Brille. Von Zeit zu Zeit sah ich die gelbliche Fassade hoch, im Fenster regte sich nichts. Vielleicht war er ins Freie gegangen. Der Kellner begann die
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