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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Herrschaft des Rechts zu berufen, wirft Arendt die Frage auf, wie zu urteilen ist, wenn das Recht noch nie mit einem Verbrechen dieser Art und dieses Ausmaßes konfrontiert war. Sie scheint sich Rogat anzuschließen, allerdings nicht, wo es um die Notwendigkeit einer Rechtserneuerung geht, die Urteilskraft verlangt, wo kein Präzedenzfall für das Verbrechen existiert.
    Hier lässt sich der überkommene Rechtsgrundsatz der Berücksichtigung der »Intention« nicht anwenden (Eichmann dachte ihrer Auffassung nach nicht), und wenn »Vergeltung« barbarisch und unzulässig ist, auf welcher Grundlage soll Eichmann dann verurteilt werden? Man würde erwarten, dass es ihr eigenes Urteil ist, das sie gern ausgesprochen gesehen hätte, aber so klar ist das nicht. Im Anschluss an Rogat behauptet sie, dass diese »längst vergessenen Vorstellungen« von Vergeltung, Rache und einer moralischen Ordnung der Natur tatsächlich die Basis der Anklage gewesen sind und »dass sie schließlich die Todesstrafe rechtfertigen« (EJ S.   402). Man würde erwarten, dass sie eben diese Begründungen verwirft – »und dennoch«, sagt sie, wurde Eichmann auf ihrer Grundlage angeklagt und verurteilt. Dann spricht sie ihr eigenes Urteil aus: »Er konnte nicht länger auf der Erde unter den Menschen leben, weil er in ein Unternehmen verwickelt war, das zugegebenermaßen gewisse ›Rassen‹ für immer vom Erdboden verschwinden lassen wollte.« Anschließend verweist sie, wie Rogat, auf die Maxime, dass Recht nicht nur geschehen, sondern sichtbar geschehen muss und wirft dem Jerusalemer Gericht vor, die »Rechtmäßigkeit« seines Vorgehens nicht »manifest« gemacht zu haben (EJ S.   402). Sie scheint also eindeutig das Handeln des Gerichts einschließlich der Verhängung der Todesstrafe für rechtmäßig gehalten zu haben, wirft dem Gericht aber vor, sein Urteil nicht öffentlich gut begründet zu haben.
    Unmittelbar bevor sie ihr eigenes Urteil ausspricht, heißt es, dass die »Rechtmäßigkeit« des gerichtlichen Vorgehens »manifest geworden [wäre], wenn die Richter es gewagt hätten, an den von ihnen Angeklagten etwa die folgenden Worte zu richten« (EJ S.   402). Die dann folgende direkte Anrede soll offensichtlich mutig sein und die Mutlosigkeit der Jerusalemer Richter kompensieren. Aber ist sie tatsächlich anderer Auffassung als die Richter? Oder schlägt sie nur eine Argumentationslinie vor, der sie hätten folgen sollen? Das ist schwer zu sagen, denn möglich ist, dass sie die Argumentation der Richter bloß mutiger vorträgt, während sie ihr zugleich nicht zustimmt (denn schließlich ließen sich die Richter ihrer Ansicht nach im abschließenden Urteil von längst vergessenen Vergeltungsvorstellungen leiten). Indem sie nun die eigene Stimme erhebt, könnte sie sich diesem Urteil anschließen und damit die heutige Form dieser längst vergessenen Vorstellungen akzeptieren. Es wäre merkwürdig, wenn nicht undenkbar, sollte Arendt sich nun barbarischen Vorstellungen anschließen, die sie doch explizit verworfen hat. Spricht sie indes aus, was die Richter hätten aussprechen sollen und verweist sie zudem auf die »Rechtmäßigkeit« ihres Urteils, dann bringt sie vielleicht einfach nur eine Argumentation ans Licht, die sie nichtsdestoweniger ablehnt.
    Wahrscheinlicher ist aber, dass sie zunächst klären will, was die Richter meinten, um dann auszusprechen was sie hätten meinen sollen; beides verbindet sich miteinander, und Letzteres kann Ersteres nicht vollständig ersetzen. Sie beendet ihre direkte Anrede mit den Worten: »Dies ist der Grund, der einzige Grund, dass Sie sterben müssen.« (EJ S.   404) Eine archaische Formulierung der Todesstrafe, die Arendt rhetorisch in die Position des Souveräns versetzt, der eine letztgültige Entscheidung verkündet, eine Entscheidung, die mancher in der Tat für barbarisch halten könnte. Betrachten wir diese Passage also genauer und fragen wir uns, was dieser Ausbruch in die direkte Anrede bedeuten soll, in der Arendt Eichmann noch einmal zum Tode verurteilt.
    Arendt tritt in den Dialog mit Eichmann ein, und obgleich er nur hier ist, weil sie ihn vorgeladen hat, redet sie selbst die meiste Zeit. Sie wendet sich an Eichmann mit den Worten: »Sie haben … gesagt, dass Ihre Rolle in der ›Endlösung der Judenfrage‹ ein Zufall gewesen sei und dass kaum jemand an Ihrer Stelle anders gehandelt hätte, ja dass man gleichsam jeden beliebigen Deutschen mit der gleichen Aufgabe hätte betrauen

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