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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Handelns einfach mit dem Prinzip des jeweiligen Gesetzgebers eines Landes oder den in ihm jeweils geltenden Gesetzen zu identifizieren, da für ihn ja jeder Bürger im Augenblick seines Handelns selbst Gesetzgeber wird durch den Gebrauch seiner ›praktischen Vernunft‹.« (EJ S.   232   f.)
    Arendt trifft 1963 im Eichmann-Buch diese Unterscheidung zwischen praktischer Vernunft und Gehorsam und beginnt sieben Jahre danach an der New School for Social Research in New York mit ihren einflussreichen Vorlesungen zu Kants politischer Philosophie. Ein Großteil ihres späteren Werks, einschließlich ihrer Arbeiten zu Willen, Urteil und Verantwortung, lässt sich in gewisser Weise als erweiterte Debatte mit Eichmann über das angemessene Verständnis Kants und als entschiedener Versuch begreifen, Kant der Aneignung durch die Nazis zu entziehen und sein Werk gegen eben denjenigen Gehorsam zu mobilisieren, der kritiklos ein kriminelles Rechtssystem und ein faschistisches Regime unterstützt hat. Nebenbei möchte ich auch darauf hinweisen, dass Arendts Verteidigung Kants einen Vergleich mit Lacan verdienen würde, der in »Kant avec Sade« im Kategorischen Imperativ selbst einen gewissen Sadismus angelegt sieht. 145 Interessanterweise greift Arendt aber nicht auf den Kategorischen Imperativ, sondern auf die ästhetische Urteilkraft (insbesondere auf die reflektierende Urteilskraft) zurück und argumentiert, diese Urteilsform könne am meisten zu einer Neuformulierung der Politik nach dem Krieg beitragen. Zugleich muss noch einmal an Arendts ununterbrochene Verbindung mit Kant, im Anschluss an Hermann Cohens Festhalten an Kant und an der Möglichkeit eines deutsch-jüdischen Denkens, erinnert werden. 146
    Eichmann in Jerusalem ist von vielen Charakteren und Stimmen bevölkert, und Arendt selbst nimmt zahlreiche Positionen ein, die nicht alle miteinander vereinbar sind. Ihre Einzelaussagen wurden in der Rezeption aus dem Kontext gerissen, aber wenn man dem Rhythmus des Textes, seinen inneren Spannungen folgt, wird deutlich, dass Arendt um die Formulierung einer Position von beträchtlicher Komplexität und Ambivalenz bemüht ist. So akzeptiert sie die Legitimität des israelischen Gerichts, über Eichmann zu urteilen und verweist darauf, dass dies das erste Mal seit dem Jahr 70 u. Z. ist, dass Juden über ihre Verfolger zu Gericht sitzen können (vgl. EJ, S.   394). Und doch stellt sie ganz offen die Frage, ob die Opfer, die zugleich die Ankläger sind, auch angemessen als Richter fungieren dürfen. Wenn die Nazi-Gräuel als »Verbrechen gegen die Menschheit« aufzufassen waren, schienen für den Fall eher unparteiische internationale Gerichtshöfe zuständig zu sein.
    Arendt kommt zu dem Schluss, dass das Jerusalemer Gericht drei wichtigen Problemen nicht gerecht werden konnte: »der Beeinträchtigung der Gerechtigkeit und Billigkeit in einem Gerichtshof des Siegers; der Klärung des Begriffes von ›Verbrechen an der Menschheit‹ und dem neuen Typus des Verwaltungsmörders, der in diese Delikte verwickelt ist« (EJ S.   398). Interessant, ja merkwürdig ist, dass Arendt der Meinung war, das Gericht habe die Person des Verbrechers nicht begriffen, erinnert sie uns doch immer wieder daran, dass Taten, aber nicht Personen als kriminell gelten können (deren Charakter ist nicht Verfahrensgegenstand) und auch nicht Völker (die als Kollektiv nicht für die Taten einzelner zur Rechenschaft gezogen werden können). Sie fragt, ob der Rechtsgrundsatz der klaren »Vorsätzlichkeit« im Fall Eichmann relevant ist. Kann man sagen, Eichmann habe »vorsätzlich« gehandelt? Wenn er keine Vorstellung von einer Untat hatte – kann er dennoch vorsätzlich eine begangen haben? Der Rückgriff auf seine Intentionen oder auf seine Psyche scheint sich von selbst zu verbieten, nicht nur, weil sich Intentionen nach wie vor nicht sicher erschließen lassen (unmöglich, sich hier nur auf seine expliziten Motive zu verlassen), sondern weil Eichmann zu einem neuen Personentypus zu gehören scheint, der einen Massenmord ohne explizite Intentionen begehen kann. In anderen Worten: Es ist historisch möglich geworden, dass bestimmte Personen als bloße Instrumente fungieren und die Fähigkeit zu denken, wie sie sagt, eingebüßt haben. Das Problem ist für sie gewissermaßen zugleich historisch und philosophisch: Wie konnte es zur Formung von Personen kommen, die der Denkfähigkeit, verstanden als Fähigkeit zum normativen Urteilen, entbehren? Arendt

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