Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
andere möglicherweise unter den gleichen Umständen auch getan hätten, liegt eine nicht überbrückbare Kluft. Uns gehen hier nur Ihre wirklichen Handlungen etwas an und weder die möglicherweise nichtverbrecherische Natur Ihres Innenlebens und Ihrer Motive noch die möglicherweise verbrecherischen Neigungen Ihrer Umgebung. […] [Es] bleibt eben doch die Tatsache bestehen, dass Sie mithalfen, die Politik des Massenmordes auszuführen und also diese Politik aktiv unterstützt haben.« (EJ S. 403 f.)
Eichmanns eigentliches Verbrechen jedoch, für das er sterben muss, liegt darin, dass (jetzt im Plural angesprochen) »Sie und Ihre Vorgesetzten sich das Recht genommen haben zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht.« Eichmann und andere glaubten entscheiden zu können, mit wem gemeinsam sie nicht »die Erde zu bewohnen« brauchen – mit dem jüdischen Volk und Menschen anderer Nationen, und weil sie entschieden, die Erde mit bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht teilen zu müssen, kann, wie sie sagt, »keinem Angehörigen des Menschengeschlechts zugemutet werden, mit denen, die solches wollen und in die Tat umsetzen, die Erde zusammen zu bewohnen.« Und dieses Verbrechen, das Verbrechen, nicht teilen zuwollen, so schließt sie, »ist der Grund, der einzige Grund, dass Sie sterben müssen.« (EJ S. 404)
Welchen Grund gibt diese Urteilsstimme also letztlich dafür an, dass Eichmann sterben muss? Weil man nicht mit denen leben kann, die einen tot sehen wollen oder die sich zur Tötung dieses Menschen und von seinesgleichen verschworen haben? Oder weil man darüber hinaus nicht mit denen leben kann, die diesen Menschen und seinesgleichen töten oder getötet haben? Wenn er hinter Gittern keine Bedrohung mehr für das Leben anderer darstellt, will man einfach nicht, dass er am Leben bleibt, da er selbst ganze Bevölkerungsgruppen nicht am Leben lassen wollte und zur Befriedigung dieses mörderischen Verlangens eine Endlösung umgesetzt hat? Ist Arendts abschließendes Urteil etwas anderes als Vergeltung?
Nach welchem Gesetz, nach welcher Norm oder nach welchem Grundsatz ist die Todesstrafe in diesem Fall gerechtfertigt? Wir haben gesehen, dass Arendt jede Berufung auf Vergeltung, Störungen der natürlichen Ordnung oder auf Rechte geschädigter Kollektive als barbarisch verwirft (EJ S. 402). Sie ist immer für Urteilsvermögen und Gerechtigkeit eingetreten, und dabei bleibt sie auch in der nach dem Epilog verfassten Vorrede. 148 Seltsam ist allerdings ihre Bemerkung, diese längst vergessenen oder archaischen Vorstellungen von Gerechtigkeit hätten nicht nur der Anklageerhebung, sondern auch dem Todesurteil gegen Eichmann zugrunde gelegen. Das ist verwirrend, denn wenn sie diese Begründungen als barbarisch und unannehmbar verwirft, bedeutet das, dass sie sowohl die Begründung der Anklageerhebung wie des Todesurteils ablehnt. Oder will sie zu verstehen geben, dass diese barbarischen Vorstellungen eine bestimmte Weisheit – eine im Entstehen begriffene Norm – enthalten (so wie das Urteil der Jerusalemer Richter möglicherweise latente Grundsätze – dieselben Grundsätze – beinhaltet, die sie nicht aussprechen)? Arendts eigene Begründung für Eichmanns Hinrichtung liegt darin, dass er bestimmte sogenannte Rassen (oder »Völker«) von der Erde tilgen wollte. Hier scheint ein Grundsatz am Werk, der aber nicht direkt benannt wird. Ohne ihre Prämissen zu vervollständigen, schließt die Urteilsstimme stattdessen, dass aus diesem Grund niemandem zugemutet werden kann, mit ihm gemeinsam die Erde zu bewohnen.
An früherer Stelle hatte es geheißen, dass die Überführung Eichmanns aus Argentinien weder rechtlich abgesichert war noch mit rechtmäßigen Mitteln erfolgt ist (ja dass Eichmann selbst »staatenlos« war und keinen Anspruch auf einen ordnungsgemäßen Prozess hatte). In diesem Kontext zitiert Arendt Jaspers, der sagt, dass Vergeltung der rechten Erwägung derStrafe, der Zuständigkeiten und des anzuwendenden Rechts im Wege steht. Alles, was wir bei Arendt lesen, scheint der Verteidigung der Gerechtigkeit gegenüber der Vergeltung das Wort zu reden; das Urteil muss auf Urteilskraft basieren und in diesem Fall sogar ohne Präzedenzfall auskommen. Das Verbrechen ist hier kein gewöhnlicher Mord, sondern, wie sie sagt, ein »Verwaltungsmassenmord«, ein ganz neuartiges Verbrechen, für das weniger psychologische Absichten als vielmehr politische Formen unkritischen Gehorsams
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