Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
verwirft die psychologische Erklärung: Eichmann ist ihrer Ansicht nach weder pervers noch sadistisch – er hat einfach ohne Urteil gehandelt, ein brutales Gesetz formuliert und ausgeführt, das zur Normalität geworden war. Worin bestand sein Verbrechen dann letztlich für Arendt? Er dachte nicht; er urteilte nicht; er bediente sich nicht der »praktischen Vernunft« im Sinne Kants. Tatsächlich versagte er darin, Kantianer zu sein, so sehr er auch das Gegenteil behauptete.
Am Ende dieses hochkomplexen Textes finden sich einige merkwürdige Passagen, in denen Arendt sich in der zweiten Person an Eichmann wendet und zu einem abschließenden Urteil gelangt. Ihr Urteil, sagt sie, hätten auch die Jerusalemer Richter so formuliert, hätten sie die »Rechtmäßigkeit dessen,was in Jerusalem getan wurde«, manifest werden lassen (EJ S. 402). Schon ihre Formulierung zeigt, dass sie das Urteil für gerecht hielt, aber sie sah diese Rechtmäßigkeit nicht angemessen verdeutlicht, sodass die dem Urteil zugrunde liegende Überlegungen nicht offengelegt wurden. Im Absatz vor ihrer eigenen Urteilsverkündung führt sie aus, dass dort, wo sich Absicht nicht nachweisen lässt (wie ihrer Ansicht nach in Eichmanns Fall), dennoch begriffen werden muss, dass ein Verbrechen begangen wurde. Die Bestrafung des Verbrechens hat für sie nichts mit Vergeltung zu tun. Sie zitiert Yosal Rogats Essay »The Eichmann Trial and the Rule of Law« (1961, S. 22) und schreibt: »›Dass ein großes Verbrechen der Natur Gewalt antut und die Erde selbst nach Vergeltung schreit; dass das Böse eine naturgegebene Harmonie zerstört, die nur durch Sühne wiederhergestellt werden kann; dass Unrecht der betroffenen Gruppe um der moralischen Ordnung willen die Pflicht auferlegt, den Schuldigen zu bestrafen‹ (Yosal Rogat) – das alles sind für uns antiquierte Vorstellungen, die wir als barbarisch ablehnen.« (EJ S. 401 f.) 147 Rogat stellt in seinem Text klar, dass solche Auffassungen »veraltet« und »unheilvolle Stammesrelikte« sind (S. 20); sie »liegen allen modernen Denkmustern voraus« und »betonen die überkommene Autorität und die Gebote gegen das individuelle Gewissen, Gruppenbindungen gegen persönliche Pflichten, soziale Verpflichtungen gegen individuelle Rechte« (S. 20). Für Rogat lässt sich Israel auf eine »aggressive Verteidigung« der Idee ein, dass eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit Ansprüche des Selbst begründet. Rogat vermutet, dass die Juden die Verfolgung vielleicht deshalb akzeptiert haben, weil sie Bestandteil dessen war, »was es hieß, jüdisch zu sein« (S. 21). Umgekehrt schien sich das Recht zur Bestrafung Eichmanns aus einem in der Tradition gründenden kollektiven Identitätsgefühl zu ergeben.
Im Rahmen dieser »älteren Auffassung«, so Rogat, wären selbst seine eigenen Fragen zur Rolle des Rechts und zur Angemessenheit des Prozesses unmöglich gewesen, da die von Arendt angeführten Auffassungen zu den Rechten des Kollektivs, den Naturrechten und dem Recht auf Vergeltung immer noch vorherrschend gewesen wären. Rogat verweist 1961 darauf, dass die Welt nach wie vor die fundamentalen Fragen stellt, die Aischylos in der Orestie aufgeworfen hat: Lassen sich Vergeltungskreisläufe nur »durch ein unbeteiligtes Tribunal« unterbrechen? Er schreibt: »Die westliche Welt war immer mit dem zentralen Problem der Orestie beschäftigt. Sie hat charakteristischerweise auf eine tiefgreifende Störung der moralischen Ordnung mit dem Versuch der Errichtung einer Rechtsordnung reagiert. Heute gibt es dazu keine Alternative mehr.« (S. 44)
Arendt scheint im Großen und Ganzen der gleichen Auffassung zu sein. Ihre Ansicht, wonach der Prozess eher ein Schauprozess als ein vom Recht geleitetes Verfahren ist, ihre Einwände gegen die rechtswidrige Überführung Eichmanns aus Argentinien und ihr Beharren darauf, dass Eichmanns Verbrechen ein Verbrechen gegen die Menschheit ist – all das findet sich auch in Rogats ruhigem und umsichtigem Text von 1961. Rogat war der Meinung, individuelle Voreingenommenheiten und Interessen ließen sich durch ein offen demonstriertes streng rechtliches Vorgehen zum Teil neutralisieren. In diesem Kontext schreibt er: »Dieses Bemühen gehört zur Maxime, nach der Recht nicht nur geschehen, sondern sichtbar geschehen muss. Diese Maxime drückt die Bedeutung nicht nur der öffentlichen Prüfung, sondern auch des öffentlichen Vertrauens aus.« (S. 34) Statt sich auf die
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