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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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können. Daraus würde folgen, dass nahezu alle Deutschen so schuldig sind wie Sie, und was Sie damit eigentlich sagen wollten, war natürlich, dass, wo alle, oder beinahe alle, schuldig sind, niemand schuldig ist.« (EJ S.   402) Die Gegenargumentation leitet sie mit dem Plural, dem »Wir« ein: »Dies ist in der Tat eine weit verbreitete Meinung, der wir uns jedoch nicht anschließen können.« Und sie fügt etwas später hinzu: »[A]uch wenn achtzig Millionen Deutsche getan hätten, was Sie getan haben, wäre das keine Entschuldigung für Sie.« (EJ S.   403)
    Im letzten Absatz nimmt sie dann die Position des Richters ein und verkündet als textuelles Äquivalent einer manifesten Handlung ein Urteil. Interessanterweise wird dieses Urteil kontrafaktisch formuliert: Wären die geschichtlichen Bedingungen andere gewesen und hätten die Richter anders gehandelt, wäre das Urteil so und so ausgefallen. Nachdem sie geschrieben hat, dass die »Rechtmäßigkeit dessen, was in Jerusalem getan wurde, manifest geworden [wäre], wenn die Richter es gewagt hätten, an den von ihnen Angeklagten etwa die folgenden Worte zu richten«, beginnt sie einen neuen Absatz und nun spricht Arendts eigene Stimme – oder die mutmaßliche Stimme der Rechtmäßigkeit selbst? Wo ist Arendt in diesem Absatz? Die Anführungszeichen, mit denen das »Zitat« einsetzt, scheinen zeigen zu wollen, wie diese Rechtmäßigkeit erscheinen muss. Was hier »erscheint«, ist eine »Stimme« – und deren Inszenierung ist visuell, textuell und damit nicht das Schauspiel des Prozesses. Hier wird etwas niedergeschrieben und in einem Buch gezeigt. Das Buch der Rechtmäßigkeit wird geschrieben und in Arendts eigenem Text vorgeführt.
    Was als eine Art Erwiderung auf Eichmanns Aussage beginnt (in der sie zunächst die Position des Anklägers einnimmt), endet mit den performativen Äußerungen des Richters. Natürlich klingen manche der von dieser Stimme ausgesprochenen Sätze wie Arendt, andere hingegen zeigen einen anderen Ton und eine andere Argumentationsweise. Arendt hatte behauptet, Eichmann seien keine niedrigen Beweggründe und Absichten nachzuweisen gewesen; die Urteilsstimme scheint indes zugleich gegenteiliger Auffassung: »Sie haben hinzugefügt, dass Sie nie aus niederen Motiven gehandelt, die Juden niemals gehasst hätten … Das ist schwer zu glauben, aber es ist nicht völlig unmöglich.« (EJ S.   402) Es folgt ein Moment, in dem die Stimme (die zu wissen scheint, was die Richter meinten oder hätten meinen sollen, auch wenn ihnen selbst das nicht klar war) mutmaßt, was Eichmann selbst sagen wollte (ein veritables Mise en abyme , in dem Arendt sowohl die implizite Begründung des Urteils wie die richterliche Rekonstruktion des impliziten Gedankengangs von Eichmann selbst offenzulegen sucht): »was Sie damit eigentlich sagen wollten, war natürlich, dass, wo alle, oder beinahe alle, schuldig sind, niemand schuldig ist« (EJ S.   302). In beiden Fällen bereitet die mutmaßende Stimme eine Urteilsposition vor, die auf der Rekonstruktion und Zuschreibung von Intentionen derjenigen basiert, die die Grundsätze ihres Handelns nicht angeben können oder wollen – ein weiterer Schatten souveränen Tuns. Es geht weniger darum vorzuschreiben, welche die Absichten hätten sein sollen als darum zu zeigen, dass bestimmte Normen bereits in beiden wirken, im Verbrechen wie im Urteil, auch wenn Richter und Angeklagter um diese Normen gar nicht wissen. Dabei handelt es sich, und das ist wichtig, nicht um »Absichten« im psychologischen Sinn, sondern um moralische Überlegungen im Rahmen von Aussagen, Anklagen und Urteilen. Arendt verweist Eichmann auch auf eine biblische Geschichte; zum Schluss des Absatzes, wo sie sagt, dass Schuld und Unschuld vor dem Gesetz objektive Tatbestände sind, scheint das zu implizieren, dass Gott die Bewohner von Sodom und Gomorra nach der Art ihres Vergehens in objektiver Weise bestraft hat. Fest steht am Ende jedoch, dass – ganz gleich, wer noch schuldig ist – nichts die Verbrechen Eichmanns entschuldigt, sodass seine individuelle Schuld in Verbindung mit seinem eigenen Tun ganz und gar in den Mittelpunkt zu rücken scheint. Um sie geht es im anschließenden Absatz, in dem sie zu einem abschließenden Urteil gelangt:

    »Durch welche Zufälle innerer und äußerer Art Sie auch immer auf den Weg geraten sein mögen, auf dem Sie dann zum Verbrecher wurden – zwischen dem, was Sie tatsächlich getan haben, und dem, was

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